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"Kreßdag"  -  Weihnachtszeit im alten Haan
19. Jahrhundert

"Gröne Kreßdag, witte Poschen" (grüne Weihnacht, weiße Ostern) - so lautet die Haaner Variante einer alten Bauernregel, die in vergangenen Jahrhunderten der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung eine gewisse Planungssicherheit vermitteln sollte. So ungefähr trifft diese Regel wohl auch für Weihnachten 2012 und Ostern 2013 zu.




Zur Weihnachtszeit sollte hier eigentlich ein thematisch passender Rückblick auf vergangene Jahrhunderte erscheinen: auf die Gebräuche einer mehr oder weniger frommen oder still-besinnlichen Weihnachtszeit in der kleinen ländlichen Gemeinde Haan - weit entfernt von atemlosem Konsummarathon, goldglitzernder Warenhausweihnachtswelt, schadstoffbelastetem Kinderspielzeug, Sinnentleerungsgefühlen bei der Konfrontation mit massenweisen Weihnachtssupersonderangeboten und Psychologentipps zur Weihnachtsstressreduzierung.

Der Versuch einer Rückschau in die Zeit vor 1900 erbrachte jedoch wenig Konkretes. Die schriftliche Konservierung der spärlichen Überlieferungen und Erinnerungen aus der Kinderzeit befragter hoch betagter Haaner ist den Herren Lomberg (1928) und Vollmar (1988) zu verdanken.

Die Aussagen lassen sich vage einordnen in den Zeitraum Mitte bis Ende des 19. Jh.. (Einiges unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem, was ich selbst als Kind in der 1950er/1960er Jahren erlebt habe. Zu uns allerdings kam - durch mütterlichen Einfluss - der Weihnachtsmann und nicht, wie sonst in Haan, das Christkind.)

Besondere regionale Weihnachtssitten kamen in den beiden o.g. Quellen nicht zum Vorschein. Wenn der religiöse Aspekt nicht ausdrücklich erwähnt wurde, lässt sich daraus vielleicht schließen, dass der weihnachtliche Kirchgang eine Selbstverständlichkeit gewesen ist wie das damals noch übliche Tischgebet. Es kann aber auch ganz anders gewesen sein.

Zumindest in der Erinnerung der befragten Zeitzeugen hat es sich so zugetragen, wie im Folgenden geschildert. Es war einmal ... in nicht allzu ferner Vergangenheit, als die Weihnachtsszeit noch am 1. Advent begann wie das evangelische und katholische Kirchenjahr und nicht schon im September mit den ersten Christstollen und Schokoladen-Weihnachtsmännern in den Supermärkten.


Haan
 
2010
Alter Markt und evangelische Kirche in der Vorweihnachtszeit

Nicht, dass Haan eine arme Gemeinde gewesen wäre. Dennoch waren die Weihnachtstage für die einfachen, arbeitsamen Bürger aus dem Bauern- und Handwerkerstand stille, schlichte Feiertage, ruhig und besinnlich, die ohne viel Aufhebens im Familienkreis begangen wurden. Man blieb zu Hause, und bei Einbruch der Dämmerung war man "em Dorp" unter sich.


Vorweihnachtszeit

In der Vorweihnachtszeit gab es viel Geheimnisvolles zu tun, denn man sorgte eigenhändig dafür, dass nützliche Dinge auf den Gabentisch gelegt werden konnten. Diese stammten nur selten aus einem der wenigen Ladengeschäfte, sondern waren Produkte der eigenen Geschicklichkeit.

Mädchen und Frauen saßen bei schummerigem Kerzen- oder Petroleumlicht oder am flackernden Herdfeuer bei weihnachtlichen Handarbeiten und fertigten Kleidungsstücke und andere Textilien. Die Jungen und Männer werkelten heimlich in der Scheune oder im Backhaus mit Holz und Metall, schnitzten, arbeiteten mit der Laub- oder Stichsäge, mit Hobel und Feile und mit Knochenleim, der erst umständlich per Wasserbad erhitzt und einsatzbereit gemacht werden musste. Das Ergebnis konnte ein Schlitten sein oder ein Schränkchen oder eine Fußbank für die "Bestemuder ", wie die Großmutter in Haan genannt wurde.

Auch die Kinder bastelten in der Vorweihnachtszeit: Aus Buntpapier schnitten sie z.B. schmale Streifen und setzten sie unter Anleitung der Mutter zu bunten Ketten zusammen, um damit den Weihnachtsbaum zu schmücken. Viele Familien, auch protestantische, stellten am 4. Dezember (dem Barbaratag) Kirschbaumzweige ins Wasser, die zu Heiligabend ihre Blüten entfalten sollten.

Die Haaner Katholiken, die 1869 ihre erste "richtige" Kirche erhalten hatten, stellten dort die weihnachtliche Krippe auf. In der evangelischen Kirche ist dies sicher nicht der Fall gewesen; die Reformierten legten das Bildnisverbot recht streng aus.



 
Das Innere der alten, 1869
eingeweihten katholischen Kirche,
die 1956/57 abgerissen wurde.

Bild-Quelle: Ev. Kirchengemeinde Haan


Heiligabend

"Auf den leeren Straßen im Dorf war es totenstill. Nur selten kam eine vermummte Gestalt über die 'Straß', wie die Kaiserstraße damals genannt wurde. In der Regel war das der allen Leuten bekannte 'Loite-Fritz' ('Leuchten-Fritz'), der von der Gemeindeverwaltung beauftragt war, die öffentlichen Petroleumlaternen, die nur von Windhövel bis zum Alten Kirchplatz aufgestellt waren, am Brennen zu halten. Fritz war den ganzen Abend damit beschäftigt, diese Lampen 'in Schuß' zu halten; denn immer waren zwei oder drei davon 'am Schwalken', also schwarz angerußt. Da man bereits bei funktionsfähigen Leuchten kaum etwas sehen konnte, mußte dauernd daran mit dem Lampenputzer gearbeitet werden.
  Elektrische Straßenbeleuchtung gab es in Haan erst ab 1896.

Auch sonst gab es noch genügend Arbeit. Die Haustiere waren zu versorgen. Jedermann im Dorf hatte seinerzeit noch Ziegen, Schafe, ein Hausschwein, Gänse, Enten und Hühner. Angst vor Einbrechern gab es nicht. Jeder kannte jeden. Und wehe, wenn es einer wagen würde! Verschlossene Haustüren sind erst eine Errungenschaft unserer Zeit. [...]

Zu Beginn der Nacht war dann im Dorf Haan nur noch der von der Gemeinde fest angestellte Nachtwächter unterwegs, der gelegentlich von einem der (von insgesamt drei beamteten) Gendarmen oder Polizisten auf seiner Runde begleitet wurde, oft bei sternklarem nächtlichen Himmel [...]."
[Vollmar]


Heiligabend ging man bis etwa 18 Uhr seinen gewöhnlichen Arbeiten nach. "... ausnahmsweise holten die Männer das Wasser für das Abendessen aus dem Brunnen im Hinterhof herein, wenn es eiskalt und dunkel war." [Vollmar]
  1879 erhielt Haan eine eigene Wasserpumpstation; bis dahin mussten sich die Haushalte aus Bächen, Teichen und Brunnen versorgen.

Gegen Abend bereiteten die Eltern die Weihnachtsteller vor - "nicht auf prunkvollen Dekorationen, sondern auf dem einfachen Eßteller". Dieser wurde gefüllt mit blankgeputzten Äpfeln aus dem Keller, Apfelsinen, Walnüssen und Haselnüssen. Dazu kam als besondere Leckerei Spekulatiusgebäck, entweder aus dem eigenen Backofen oder aus einer Haaner Bäckerei, die mit Spekulatiusbrettern ausgestattet war, und das sogenannte Gebildbrot.


"Zu Weihnachten gab's Böxenpitter und Pillenten, die beide aus Semmelteig hergestellt waren. Die Kinder zogen die Böxenpitter vor, zunächst schon, weil sie zwei Korinthen hatten, währen die Pillenten sich mit einer hatten begnügen müssen; sodann waren die Böxenpitter aber auch noch mit einer tönernen Mutzpiepe ausgestattet, die, im Munde steckend, ihnen ein drolliges Aussehen verschaffte."
[Lomberg S. 141]


Gebildbrot

Viele Haaner Familien, vor allem die evangelischen, hatten schon früh die Sitte übernommen, einen geschmückten Tannenbaum in die gute Stube zu stellen. Der Weihnachtsbaum wurde mit mundgeblasenen Glaskugeln, einer Spitze und mit Haselnüssen geschmückt.

"Mittels eines messerartigen Zangengerätes, also einer Art besonderen Nußknackers, wurden die Haselnüsse so gespalten, daß man eine Tannennadel des Baumes in den Schlitz einklemmen konnte. Auf diese Art konnte man den Weihnachtsbaum voller Haselnüsse hängen." [Vollmar] - Wohl dem, der eine nicht nadelnde Edeltanne sein Eigen nannte.



 
Illustration
von Ludwig Richter
(1803-1884)

Heiligabend war Badetag: Niemand durfte erscheinen, ohne zuvor im Holzbottich ein Bad genommen zu haben. Ein besonderes Feiertagsessen gab es in den Familien der befragten Haaner nicht. Wie an den ganz normalen Werktagen wurden vorzugsweise Bratkartoffeln verzehrt. Man ging früh zu Bett, nachdem die notwendigen Maßnahmen für den erwarteten Besuch des Christkindes getroffen waren:

"Es war üblich, daß die Kinder ihren Teller auf die Fensterbank stellten, gefüllt mit Brotkrusten und Hafer als Futter für das weiße Pferd des Christkindes. Standen die Kinder dann am Weihnachtsmorgen auf, durften sie zum Weihnachtsbaum gehen, an dem die Kerzen schon entzündet waren. Der Teller stand immer noch auf der Fensterbank, war nun aber mit den Gaben des Christkindes gefüllt. Die Mutter versicherte, daß sie extra deshalb nachts das Fenster aufgelassen hätte." [Vollmar]



 
"Die Mutter am Christabend".
Holzschnitt von
Ludwig Richter (1803-1884)



Weihnachtstag

Am ersten Weihnachtsfeiertag wurde morgens gegen 8 Uhr gefrühstückt: Schwarzbrot und Platz (Stuten), dazu Butter und Bohnenkaffee. Dann folgte die Bescherung mit vorwiegend praktischen Geschenken wie Unterwäsche, Hemden, Strümpfen und Hosenträgern, die auf dem Teller des Christkindes keinen Platz gefunden hätten. Für die Kinder war sicher auch das eine oder andere Spielzeug dabei.

"Besonders begehrt waren im 19. Jahrhundert Musikwerke, die mit Uhrwerkantrieb, Messingwalzen oder Stahlblechplatten und einem stimmgabelähnlichen Stahlkamm ganze Liedsätze ertönen lassen konnten. Hatte man noch Geld übrig, dann konnte man soger eine Spieluhr kaufen, die mit einem Glockenregister kombiniert war. [...] Bezeichnenderweise besteht das Musikangebot fast immer nur aus Weihnachtsliedern, was darauf schließen läßt, daß eine solche Spieluhr als Weihnachtsgeschenk gekauft wurde. Tatsächlich haben dise Werke, durchweg noch nicht so sehr industriell, sondern eher handwerklich angefertigt, einen unvergleichlich lieblichen Klang." [Vollmar]


Aus anderer Quelle war zu erfahren, dass die Weihnachtsgaben sich auch auf ein paar Backpflaumen oder ein Paar abgetragener Halbschuhe für die Kinder beschränken konnten oder ganz ausfielen - in diesem speziellen Fall weniger aus Armut als aus "Sparsamkeitsgründen".



 
Kolorierte Lithographie
von H. Grünewald,
2. Hälfte 19. Jh.

"Zum Mittag gab es das übliche Sonntagsessen: Suppe, Fleisch mit Gemüse und Nachtisch. Die Kinder mußten in der Regel die Küche aufräumen. Hatten sie keine Lust dazu, dann wurden sie nicht nur gescholten, sondern draußen zur Strafe in das 'Häuschen' eingesperrt, welches in der Tür ein Herz hatte (Wasserklosetts im Hause gab es damals noch nicht) und meist mitten im kalten Garten stand. [Vollmar]

Später buk die Hausfrau für die Familie und eventuelle Besucher (Verwandte und Freunde) Apfelkuchen und kochte im gusseisernen Topf auf dem Kohlenherd Reis, der als süßer Milchreis serviert wurde. Zum Abendessen ließ man sich Brot und Kartoffelsalat und als Getränk Fleischbrühe schmecken. Dann sangen alle gemeinsam bei brennenden Weihnachtsbaumkerzen stimmungsvolle Weihnachtslieder. Dies wurde zumindest von den Erwachsenen sicherlich nicht als lästige Pflichtübung verstanden, denn...

"Ein weiterer Charakterzug des Haaners ist seine Sangeslust. Nicht nur liebt er es, den Rhythmus der beruflichen Arbeit durch ein Lied zu beleben, sondern findet sich nach des Tages Arbeit mit Gleichgesinnten auch gern in Singvereinen zusammen, um durch gemeinsam gesungene Lieder Herz und Sinn über die Alltäglichkeit zu erheben." [Lomberg]



 
"Am Weihnachtsabend".
Zeichnung von
August von Kreling (1819-1876),
um 1850

Gegen 22 Uhr war der Tag zu Ende, und man ging schlafen.

Bis zum 6. Januar, dem Heilige-Drei-Königs-Tag, blieb der Weihnachtsbaum an seinem Platz. Dann wurde er von der Mutter geschüttelt, und alles, was an Essbarem herunterfiel, durften die Kinder behalten. Wer die Tannennadeln weggefegt hat, ist nicht überliefert.


Ob und wie Weihnachten bei den Haaner Pietisten des 19. Jh. gefeiert wurde - dazu ist von meinen eigenen Vorfahren gar nichts bekannt. Lt. anderer, mündlicher Quelle wurde Weihnachten bei ihnen nicht gefeiert, und die bedauernswerten Kinder erhielten auch keine Geschenke.


Wintervergnügen

War die Weihnachtszeit winterlich-weiß, wie es sich gehört, dann hatten die Kinder draußen ihren Spaß. August Lomberg schildert, wie er es als Kind in der 2. Hälfte des 19. Jh. erlebt hat:

"Das bißchen Kälte schlugen wir weiter nicht an. Fiel der erste Schnee, so wurde er mit lautem Jubel begrüßt, und neue Lebenskraft zuckte durch die Glieder. alsbald holten wir unsere Handschlitten vom Speicher und säuberten sie von Staub und Rost. Die abschüssigen Straßen und steilen Berghänge boten Gelegenheit zu lustiger Fahrt. In sausender Geschwindigkeit den Berg hinabzugleiten und dann noch hundert Schritte auf der Talsohle weiter zu fliegen, war Götterlust.

Mein Schlitten galt als einer der besten Renner, und wenn er einmal im Zuge war, setzte er wie ein unbändiges Roß über alle Hindernisse hinweg, riß auch wohl einige der Spielgenossen mit sich fort, so daß sich nicht selten ein großes Geschrei erhob und die Mädchen zu kreischen anfingen. Daß ich mit meinem wildgewordenen Rosse zuweilen auch selber stürzte, erhöhte trotz einiger Beulen noch das Vergnügen.

Wo sich Teiche fanden, die im Winter zufroren, wie z.B. in der Steinkuhle und in Thienhausen, da wurde auch die Gelegenheit zum Eislauf fleißig benutzt. Zu den mehr alltäglichen Vergnügungen gehörte das Lotschen oder Eisbahnschlagen. Wenig Rücksicht auf gebrechliche Personen nehmend, trugen wir keine Scheu, namentlich die abschüssigen Straßen in spielgelglatte Eisbahnen umzuwandeln. Da war es dann ein Vergnügen, wie im Fluge dahinzusausen. Nicht selten kam es auch vor, daß einer der Mitspielenden mitten im Laufe ausglitt, wobei er die Nachfolgenden gleichfalls in seinen Sturz verwickelte, bis zuletzt alles, Buben und Mägdlein, in einen wilden Käuel verschlungen war.

Auch den frisch gefallenen Schnee benutzten wir zu unserem Spielvergnügen. Wenn es hieß: de Schnei klutt sech!, dann rollten wir Schneelawinen den Abhang hinunter, die nicht selten zu gewaltigem Umfange anschwollen. Gleichzeitig bauten wir Schneemänner auf, denen wir durch allerlei Zutaten: Augen aus Kohlenstücken, Mutzpiepen und Knüppel, ein möglichst keckes Aussehen zu geben versuchten.

War eine größere Spielschar zusammen, so schieden wir uns auch wohl in zwei feindliche Heerlager und eröffneten eine mit aller Hartnäckigkeit ausgefochtene Schneeballschlacht. Zuweilen endete sie erst, wenn in einem benachbarten Hause eine Fensterscheibe klirrte, worauf die mit Recht erzürnten Hausbewohner uns mit Schelten und lauten Verwünschungen auseinander trieben." [Lomberg]



 
1958  
Schneemann auf der Wiese
an der Adlerstraße.
10 Jahre später entstand
an dieser Stelle das Gymnasium.


Quellen:
  • Lomberg (1928)
  • Vollmar (1988), div. Beiträge in: "Kreßdag" im alten Haan. Hrsg.: BGV Haan (2006)
  • Mündl. Quellen

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