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Pietismus: Definition und Vertreter
Pietismus bezeichnet eine kirchliche Reformbewegung, die für ein auf persönlicher Heilserfahrung beruhendes Christentum eintritt. Betont wird das Ideal eines an der Bibel orientierten praktischen Christentums, das sich in "lebendiger Frömmigkeit und tätiger Nächstenliebe" (der "praxis pietatis") äußert. Der Pietismus basiert auf regelmäßigem Bibelstudium und der vom einzelnen Christen bewusst erlebten "geistlichen Wiedergeburt". Seine Wurzeln reichen ins 16. Jh. zurück; seine Blütezeit erlebte er Ende des 17. bis Mitte des 18. Jh. Er setzte sich fort in den sog. Erweckungsbewegungen des 19. Jh.
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Bibelstunden und Gemeindeleben in Haan (Gottlieb Mutz)
Als die Freie evangelische Gemeinde in Haan 1993 ihr 100jähriges Jubiläum vorbereitete, wurde ich durch eine Anfrage des Gemeindemitgliedes und Buchautors Horst Neeb († 2004) daran erinnert, dass im 19. Jh. eine Verbindung zwischen Familie Mutz und der Gemeinde bestanden hat. Wohl hatte ich früher davon gehört - aber wie war das noch?
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Im Haus Nachbarsberg 35 (links; inzwischen sehr verändert) wurden Bibelstunden abgehalten. Bild-Quelle: Stadtarchiv Haan |
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Später wurden die Bibelstunden in dieses Haus am Nachbarsberg 8 (heute Wiedenhof 2) verlegt, das mein Urgroßvater um 1877 erbaute. |
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Das 1899 erbaute Gemeindehaus der Freien ev. Gemeinde an der Ellscheider Straße (1980 an gleicher Stelle durch einen Neubau ersetzt). Bild-Quelle: Stadtarchiv Haan |
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1980 Evangelisches Vereinshaus an der Alleestraße |
Einzelheiten dazu habe ich in älteren Bibelaufzeichnungen meines Großvaters Carl Ludwig Mutz gefunden. Darunter befindet sich ein Hinweis darauf, dass schlimme "Verfehlungen" gegenüber Kindern, von denen seit Anfang des Jahres 2010 verstärkt in den Medien die Rede ist, auch früher und auch bei evangelischen Pfarrern vorkamen. |
Carl Ludwig Mutz, Haan 1937
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden in der Elp bei Haan bei der, oder im Hause der Familie Stöcker, auch wohl mal in Holthausen bei Haan im Hause der Familie Dörner, Bibelstunden von Laienbrüdern u. Pastoren, auch von Missionaren u. Zöglingen aus Barmen gehalten. Den beiden Pastoren Müller (1826-1873) u. Pieper (1836-1850) aus Mettmann hat mein Großvater Wilh. Pieper aus Mettmann (1809-1892) oft das Geleit dorthin gegeben, ebenso auch Laienbrüdern von dort. -
In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war in Haan durch oben Genannte eine Erweckungszeit u. viele kamen, besonders durch das Zeugnis von Joh. Thienhaus in der Elp, zum lebendigen Glauben wie zur vollen Heilsgewißheit. Unter diesen war auch
Mitte siebenziger Jahre wurde auf allgemeinen Wunsch, des unfreundlichen Weges halber, die Bibelstunde in mein großväterliches Haus auf dem Nachbarsberg verlegt (später Geschwister Mutz.) [= Nachbarsberg 35] Zuerst war alle 3 Wochen, später alle 2 Wochen Bibelstunde. Meist sprachen Laienbrüder, Stadtmissionare, Missionare aus Barmen, später auch aus Neukirchen, auch Pfarrer.
Schade, daß durch die sittlichen Verfehlungen von Pfr. T******* in Haan, die eine spätere Wiederholung in der folgenden Gemeinde Bielefeld fanden, wodurch dieser, um der Strafe zu entgehen, nach Amerika flüchtete, [F] sich manche ernstdenkende Leute von der Kirche abwandten u. sich Gemeinschaften anschlossen, bezw. sie später mit gründeten.
Mitte der neunziger Jahre wie auch Anfang dieses Jahrhunderts hat Haan nochmals besondere Erweckungszeiten erlebt, 1905 durch Prediger Dännert aus Barmen, später Neukirchen b. Mörs. -
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Familie Mutz in Gruiten und Haan
Darüber, was meinen Urgroßvater Gottlieb Mutz zu seinem Engagement für den Bibelkreis bewogen hat, lässt sich spekulieren: Seine Eltern, der Weber Ludwig Mutz und seine Frau Anna Catharina geb. Breidt ("Tochter eines Boten"), lebten in Gruiten im Doctorshaus. Gottlieb wurde 1839 in Gruiten als viertes von sieben Kindern geboren. Zwischen 1840 und 1845 ist die Familie nach Haan auf den Nachbarsberg umgezogen: Das sechste Kind kam bereits dort zur Welt.
Gottliebs Vater Ludwig Mutz war, wie auch die früheren Generationen Mutz, in Wald geboren (1811), dessen jüngere und ältere Geschwister aber auf dem Nachbarsberg in Haan. Ludwigs Mutter, Anna Gertrud geb. Dörner (1774-1815), stammte vom Nachbarsberg. Hier lebte zeitweise auch sein Vater, der Messerreider und Schleifer Johann Abraham Mutz (1780-1853).
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2002 Das Doctorshaus in Gruiten |
Erweckungslehre in Wald - Familie Weck
Auch in Solingen und Wald fanden Versammlungen statt, so z.B. bei dem Chirurgen und früheren Schleifer Wilhelm (?) Weck in Obenitter, der 1710 durch Hochmann von Hohenau zu seinem Glauben gekommen sein soll. Ernst Christian Graf Hochmann von Hohenau, "der gewaltigste Reiseprediger seiner Zeit", hatte 1710 in Gräfrath und Solingen gepredigt. [Rosenthal 2. Bd. S. 30]
In seinem Buch "Em Wauler Dorp" berichtet Rosenthal über den separatischen Pietisten und Wiedertäufer Johann Lobach, Sohn des 1702 verstorbenen Walder Schwertschmiedes Peter Lobach, zu dessen Kreis die Familie Weck gehörte. Möglicherweise zählten auch Angehörige der Familie Mutz dazu.
"Zu Johann Lobachs Familienkreis gehörte die Familie Weck auf dem Rolsberg. Von ihr hat sich sein Schwager Wilhelm Weck der Ältere hervorgetan, indem er in seinem Hause in Obenitter Erbauungsversammlungen hielt, woran sich die Gesinnungsfreunde aus Barmen, Elberfeld und Solingen beteiligten. Und Wilhelm Weck d.J. (1714-1789) ist sowohl durch eine Stiftung für die armen Walder Schulkinder zu nennen, wie auch als Herausgeber von Gerhard Tersteegens Briefen und wegen seiner regen Teilnahme am pietistischen Leben.
Damals lebten meine Vorfahren Mutz in Wald - ebenso wie Familie Weck - in der "Itter", und zuvor, wie auch Familie Weck, "zum Feld". Auch auf dem Rolsberg erscheinen beide Namen. Verbindungen zwischen beiden Familien waren mehrfach vorhanden. Familie Mutz könnte also bereits in Wald mit der Erweckungslehre in Berührung gekommen sein und brachte ihre Glaubensrichtung wahrscheinlich schon auf den Haaner Nachbarsberg mit. |
Jacob Lauterbach, Heilpraktiker in Gruiten (18. Jh.)Hermann Banniza skizziert in einem Aufsatz die Person des oben schon erwähnten Gruitener Mediziners Jakob Lauterbachs: |
"Lauterbach wirkte als Heilpraktiker, der sich - wie so mancher seiner Zeitgenossen - autodidaktisch gebildet hatte. Er erhielt einen außergewöhnlichen Zulauf und wurde weit bekannt. [...]
Im Mai 1743 vermählt sich Lauterbach in Ratingen mit Irmgard Zassenhaus (1720-1774), Tochter des Landwirtes Peter Zassenhaus und der Christina Thomashoff. Von 1744 bis 1765 werden dem Ehepaar in Gruiten zehn Kinder geboren. 1750 wohnt er noch 'aufm Grunder Kämpgen'. Vermutlich wenig später errichtet Lauterbach sein großes Haus mit Praxisräumen und eigener Apotheke (Baudenkmal Doktorshaus, Heinhauser Weg 27).
Die Reformierte Gemeinde Wald richtet 1763 ein Armenhaus ein, und Lauterbach spendet hierfür beachtliche 225 Taler.
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Jung-Stilling: Theobald oder die Schwärmer
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"Am 14. Juli 1877 erschien in dem in Hilden verlegten 'Rheinischen Volksblatt für die Kreise Düsseldorf, Solingen und Mettmann' ein kurzer Aufsatz: »Der berühmte Doktor zu Grüten«. Hierin wurde erstmals festgestellt, Lauterbach sei mit dem 'Arzt Rosenbach' aus dem Dorf 'Ederthal' identisch, der in Jung-Stillings Roman 'Theobald oder die Schwärmer' (1. Bd., Leipzig 1784) eine wichtige Rolle spielt, und für die biographischen Angaben zu Lauterbach wurden überwiegend Texte aus diesem Roman verwendet.
Der damals vielgelesene Volksschriftsteller Professor und Hofrat Dr. med. Johann Heinrich Jung - geboren 1740 in Grund bei Hilchenbach im Siegerland, gestorben 1817 in Karlsruhe - wollte mit dem Roman unter dem Motto 'Mittelmaß die beste Straß' vor allzu großer religiöser Schwärmerei warnen. Hierzu erdachte er die Titelgestalt Samuel Theobald und beschrieb an dessen Lebenslauf vom Knaben bis zum Geheimrat geistliche und sittliche Gefahren. Den Handlungshintergrund bildeten nach seinem Vorwort 'lauter wahre Geschichten', die er jedoch dichterisch veränderte, miteinander verschmolz und abschnittsweise in der Ich-Form darbot. [...]
Wie Jung-Stilling im Roman mitteilte, wurde er »in den sechziger Jahren« zu Rosenbach geschickt, um Arznei für ein vor langer Zeit erkranktes Mädchen zu holen.
Die regionale Überlieferung im Rheinischen Volksblatt von 1877 bildete den Anlaß, nicht nur nach historischen Quellen, sondern auch in der Literatur nach einer authentischen Auflösung der Pseudonyme 'Rosenbach' und 'Ederthal' zu suchen. Dabei ergaben sich für den Verfasser - und zugleich für die Forschung - überraschende Erkenntnisse:
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Gerhard TersteegenGerhard Tersteegen kam am 25.11.1697 in Moers zur Welt. Er entstammte einem von reformierter Frömmigkeit geprägtem Elternhaus. 1713 begann er eine kaufmännische Lehre, gab diesen Beruf aber bereits 1719 wieder auf und lebte seither zurückgezogen. Als Bandweber in Heimarbeit war er in der Lage, sich eine umfangreiche geistesgeschichtliche Bildung anzueignen. |
Gerhard Tersteegen |
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Nach einer Zeit intensiver geistiger und religiöser Suche wurde Tersteegen als Prediger, Seelsorger, Schriftsteller und Mystiker zu einem der herausragendsten Vertreter des Pietismus im 18. Jh. Ab 1728 wirkte er als Prediger in der protestantischen Erweckungs-Bewegung, verfaßte zahlreiche Schriften und wurde ein bekannter Dichter von Kirchenliedern. Er starb am 03.04.1769 in Mülheim an der Ruhr. |
Johann Heinrich Jung (genannt Jung-Stilling)Johann Heinrich Jung wurde am 12.09.1740 in Grund/Rothaargebirge geboren. Er wuchs in ärmlichen ländlichen Verhältnissen auf. 1770 bis 1772 studierte er in Straßburg Medizin und kam dort in Kontakt mit Goethe. Ab 1772 war er sieben Jahre lang als praktischer Arzt in Elberfeld tätig. Mehr als 3.000 Menschen gab er das Sehvermögen zurück. Später war er unter anderem Professor für Landwirtschaft, Handlungswissenschaft und Vieh-Arzneikunde in Kaiserslautern und Heidelberg. 1781 erschien seine Schrift "Von dem Nassau-Siegischen Eisen- und Stahlgewerbe in dem Herzogthume Berg", 1798 seine Arbeit über die Ersetzung von Handarbeit durch Maschinen. Ab 1787 lehrte er in Marburg als Professor für ökonomische Wissenschaften. |
Johann Heinrich Jung-Stilling. Kupferstich von Johann Heinrich Lips, 1801 |
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1803 wurde Jung-Stilling vom damaligen Kurfürsten von Baden von der Lehrtätigkeit befreit, zum Berater ernannt und konnte sich so als freier religiöser Schriftsteller betätigen. Weltbekannt wurde er durch seine Lebensgeschichte, deren ersten Band Goethe 1777 unter dem Titel "Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte" herausgab.
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Quellen und weitere Literatur:
Zum Thema "Gerhard Tersteegen" sind von Horst Neeb außerdem in der Schriftenreihe des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland erschienen:
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