www . ZeitSpurenSuche . de

Gesundheitsgefahren des Schleiferberufs

Die Arbeit der Schleifer war schwer und ungesund. Blättert man einmal alte Zeitungen aus dem 19. Jh. durch, so stößt man immer wieder auf Todesanzeigen, in denen die Ursache für ihr frühes Ableben genannt wird: Sehr häufig erlagen sie schon in jüngeren Jahren der Lungenschwindsucht (Lungentuberkulose) oder der sogenannten Schleiferkrankheit, der Silikose, die auf das Einatmen der in der Werkstatt vorhandenen Staubteilchen zurückgeführt wurde. Tatsächlich war der beim Schleifen entstehende Quarzfeinstaub der Schleifsteine, genauer: die darin enthaltene kristalline Kieselsäure, Auslöser der Erkrankung.

"Physische Characteristic"
Krankheit als Folge von Kinderarbeit
Gesundheitszustand der Solinger Schleifer
Friedrich Engels: Die Schleifer in Sheffield
A. Oldendorf: Mortalitäts- und Morbiditäts-Verhältnisse der Metallschleifer




"Physische Charakteristik"

Im Jahr 1823 berichtete Dr. Johann Wilhelm Spiritus (* 1787 in Burg an der Wupper, + 1848), Amtsarzt des Kreises Solingen, über die besonderen Merkmale, die ihm an den Einwohnern des Kreises Solingen, hier den "Fabrikarbeitern", aufgefallen sind. Spiritus setzt den Begriff 'Fabrikarbeiter' mit dem Begriff 'Fabrikant' gleich; gemeint ist in diesem Fall der Klingenschleifer.


§ 38

Der Körperbau unserer Fabrikarbeiter im allgemeinen, einzelne Ausnahmen abgerechnet, deutet auf keinen besonders starken Menschenschlag hin, eine mittlere Natur, gebückte Haltung, platte Brust und derbe, musculöse, durch schwere Handarbeit gestählte Arme und Hände, die mit dem übrigens eher magern als fetten Körper contrastiren, sind den meisten eigenthümlich. Nicht abzusprechen sind ihnen bedeutende körperliche Kräfte, doch nur für gewohnte Arbeiten, wogegen jede ungewöhnliche Anstrengung anderer Art höchst beschwerlich fällt und nicht selten Unpäslichkeiten nach sich zieht.

Selten findet man einen zwanzigjährigen Menschen von ganz grader Haltung; schon jetzt sieht man an der gebückten Stellung den meisten das Handwerk an, was sie betreiben, und aus diesem Grunde fällt ihnen, wenn sie militairpflichtig werden, die aufrechte Stellung beim Exercieren so außerordentlich schwer, so daß sie mit größerer Leichtigkeit einen ganzen Tag die schwersten Arbeiten ihres Handwerks zu verrichten vermögen."

[Spiritus]


Jahrzehnte später, 1867, äußerte sich der Ökonom Nicolaus Hocker in seiner Arbeit über die "Großindustrie Rheinlands und Westfalens" in ähnlicher Weise wie Dr. Spiritus über die durch ihre Arbeit erworbene Konstitution des "bergischen Menschen" in der Stahlwarenfabrikation, die ihn für Lungenerkrankungen bzw. die häufige Lungenschwindsucht zu prädestinieren scheint. Diese soll noch um 1880 Ursache jedes zweiten Todesfalls in Deutschland in der Altersgruppe der 15- bis 40-Jährigen gewesen sein.

"Die Beschäftigung in den Fabriken, Bergwerken und Eisenhütten hat den durchgängig starken Körperbau der Bewohner geschwächt, wozu auch der häufige Branntweingenuß das Seinige beitragen mag. Im Allgemeinen gilt, was O. von Czarnovsky von den Bewohnern des Kreises Lennep bemerkt: 'Hochgewachsener, kräftiger und abgehärteter sind im Gegensatze zu den Webern und Fabrikarbeitern in den Manufacturen die Arbeiter der Eisen- und Stahlwaarenfabrikation. Die Arbeiter dieser Gewerbe haben in der Regel eine platte Brust und gebückte Haltung, dabei derbe, volle Arme, im Contrast zu ihrem übrigen magern Körper. Bei diesem Gewerbe wird die Muskelkraft merkwürdig ausgebildet, so daß sie im Stande sind, mit den schwersten Lasten die steilen Berge auf- und abzuwandern."

[Hocker S. 114 f]


nach oben


Krankheit als Folge von Kinderarbeit

Zur Lungenschwindsucht der Schleifer bemerkte Amtsarzt Dr. Spiritus in seiner 1823 beim Düsseldorfer Regierungspräsidenten eingereichten "medizinischen Topographie" Folgendes:

"[...] trägt auch das Gewerbe zur Entwicklung der genannten Krankheit bei, insofern es bei heranwachsenden Knaben und Jünglingen die freie Entwicklung des knochernen Thorax hindert. Zu früh werden die Kinder zum schweren Handwerk herangezogen: eine eingedrückte Brust, der es später, wenn das irritable Leben vorherrschend wird und die Organe der Respiration sich mehr ausdehnen, an Raum gebricht, ist davon die nothwendige Folge. Mit vollem Recht lassen sich aus diesem Umstande so manche active Lungenblutflüsse und Schwindsuchten herleiten." [Spiritus § 108, in: Stremmel S. 209]

"Schärfer als der Solinger Arzt hatte 14 Jahre zuvor die französische Verwaltung den unausweichlich folgenden frühen körperlichen Verfall beträchtlicher Bevölkerungsteile angeprangert: »Die große Mehrzahl der Einwohner des Arrondissement Elberfeld [dazu zählte auch Solingen] befindet sich in einer äußerst jämmerlichen Verfassung. Dieser Zustand der Degeneration ist wohl auf die Gewohnheit in dieser Gegend zurückzuführen, daß man zu früh die Kinder in den Fabriken arbeiten läßt. In großer Zahl in den Werkstätten zusammengepfercht, an eine sitzende Beschäftigung gefesselt, die sie zwingt, lange Zeit in gekrümmter Haltung zu verharren, kann sich ihr Körper nicht ausreichend entwickeln [...]«" [Stremmel S. 57]

   Über Kinderarbeit im Bergischen Land


nach oben


Gesundheitszustand Solinger Schleifer

Die Gesundheitsgefahren waren also durchaus auch offiziell bekannt, es gab Untersuchungen und Untersuchungsberichte von Ärzten, Ökonomen, Statistikern, Bürgermeistern und Landräten. Die jämmerliche Konstitution und das Frühableben der Schleifer waren wohl bedauerlich, aber normal und anscheinend nicht zu ändern, und es dauerte Jahrhunderte, bis die Obrigkeit allmählich Handlungsbedarf sah. 1831 war es jedenfalls noch nicht soweit:

"Aufgeschreckt durch englische Veröffentlichungen, forderte die Regierung 1831 einen Bericht über den Gesundheitszustand der Schleifer an. In England, wo das Trockenschleifen bevorzugt wurde, wurden die Arbeiter selten älter als 32 Jahre, nur ganz wenige erreichten das 50. Lebensjahr. Der Solinger Landrat machte sich die Angaben des Höhscheider Bürgermeisters Höfer zu eigen, der geschrieben hatte: »Bei uns sind die Schleifer in der Regel starke veranlagte Leute und die Sterblichkeit möchte unter ihnen geringer wie unter den sogenannten Feiler und Reider angeben, die in einer gebückten Stellung jung schon Feiler-Arbeiten thun, wo sie am Mangel an Körperkraft ihre Brust zusammenpressen, die sich daher bei diesen Leuten gewöhnlich platt formt u. Schwächlinge werden.

Die Arbeiten der Schleifer sind mehr frei, und die Knaben haben leichte Arbeit dabei zu verrichten, was die Entwicklung ihres Körpers nicht hindert. Trocken wird hier aber gar nicht geschliffen. Dann sind auch manche Werkstätte in neuerer Zeit durch zweckmäßigere Umbauung, daß nämlich die Arbeitsstelle auf die Dachstuben verlegt worden, für die Gesundheit der Arbeit zweckmäßiger eingerichtet, daß dadurch weniger in feuchten Lokalen gearbeitet wird.«

Höfer stützte sich nicht auf eine Gesundheitsstatistik, sondern auf einen allgemeinen, aber nicht weniger sachverständigen Eindruck. Wie sehr sein Bericht Vertrauen verdient, ergibt sich aus den Walder Sterberegistern 1770-1809. Dort lag das Durchschnittsalter der Schleifer bei 51 Jahren 6 Monaten 19 Tagen. Mehr als die Hälfte der Walder Schleifer erreichte es. Möglicherweise läge dieses Durchschnittsalter noch höher, wenn nicht gerade diese Berufsgruppe durch Betriebsunfälle in relativ jungen Jahren gefährdet wäre."

[Rosenthal 2 S. 308 f]

  Über die Unfallgefahren des Schleiferberufs



1911   Schleifer in gebückter Haltung
Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen
 

1913   Schleifer in gebückter Haltung
Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen


Solinger Kreis-Intelligenzblatt vom 1. April 1840

Todes-Anzeige.

In der heutigen Mittagsstunde entschlief sanft zum höhern Leben unser geliebter Sohn und Bruder Karl Loos, in dem jugendlichen Alter von 19 Jahren und 2 Monaten, nach dreimonatlichen Leiden an den Folgen der Lungen-Schwindsucht.
Sein Verlust schmerzt uns um so tiefer, als die Anlagen seines Geistes und Herzens zu so schönen Hoffnungen berechtigten. Doch gereicht es uns auch zum Troste, daß der Entschlafene schon in früher Jugend den Herrn suchte und fand; und es erfüllt unser trauerndes Herz die beruhigende Hoffnung: durch Gottes Gnade einst wieder mit ihm vereinigt zu werden im bessern Jenseits, wo kein Trennungsschmerz mehr sein wird.

Freunden und Bekannten widmen diese Trauer-Anzeige
Die Eltern und Geschwister des Heimgegangenen.
Höfchen, bei Widdert, den 27 März 1840.


nach oben


Friedrich Engels: Die Schleifer in Sheffield

Zufällig stieß ich im Zusammenhang mit dem Thema "Schleiferkrankheiten" auf Friedrich Engels: Er beschrieb 1844/45 in seiner Abhandlung "Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen" auch die Situation der Schleifer in Sheffield. Sheffield war Mitte bis Ende des 19. Jh. führend bei der Produktion hochwertiger Schleifwaren noch vor Solingen. [Beermann S. 86].

Wie groß die Parallelen zum Solinger Schleifergewerbe in jener Zeit sind, sei einmal dahingestellt. Dadurch, dass die hiesigen Schleifer vielfach in Heimarbeit tätig waren und oft nebenher Landwirtschaft betrieben, wird ihre Situation "durchschnittlich" eine vergleichsweise bessere gewesen sein. - Hier die Schilderung von Engels, ein Auszug aus dem Kapitel "Die übrigen Arbeitszweige":


Friedrich Engels 1856
 
Friedrich Engels
(1820-1895)
im Jahr 1856

"Bei weitem die ungesundeste Arbeit ist aber das Schleifen der Klingen und Gabeln, das, besonders wenn es auf trocknen Steinen geschieht, unfehlbar einen frühen Tod nach sich zieht. Die Ungesundheit dieser Arbeit liegt teils in der gebückten Stellung, bei der die Brust und der Magen gedrückt wird, besonders aber in der Menge scharfkantigen, metallischen Staubes, der beim Schleifen abspringt, die Atmosphäre füllt und notwendig eingeatmet wird. Die Trockenschleifer werden durchschnittlich kaum 35, die Nassschleifer selten über 45 Jahre alt.

Dr. Knight in Sheffield sagt: »Ich kann die Schädlichkeit dieser Beschäftigung nur dadurch einigermaßen deutlich machen, daß ich die stärksten Trinker unter den Schleifern für die langlebigsten unter ihnen erkläre, weil sie am meisten von ihrer Arbeit abwesend sind.

Im ganzen sind etwa 2500 Schleifer in Sheffield. Ungefähr 150 (30 Männer und 70 Knaben) sind Gabelschleifer - diese sterben zwischen dem 28. und 32. Lebensjahre: die Rasiermesserschleifer, die sowohl naß als trocken schleifen, sterben zwischen 40 und 45 Jahren, und die Tischmesserschleifer, die naß schleifen, sterben zwischen 40 und 50 Jahren.«

Derselbe Arzt gibt folgende Schilderung des Verlaufs ihrer Krankheit, des sogenannten Schleifer-Asthma: »Sie fangen ihre Arbeit gewöhnlich mit dem vierzehnten Jahre an, und wenn sie gute Konstitution haben, so spüren sie vor dem zwanzigsten Jahre selten viel Beschwerden.

Dann fangen die Symptome ihrer eigentümlichen Krankheit an, sich zu zeigen; der Atem geht ihnen bei der geringsten Anstrengung, beim Treppen- oder Bergsteigen, gleich aus, sie halten die Schultern hoch, um die beständige und zunehmende Atemnot zu erleichtern, sie beugen sich nach vorn und scheinen überhaupt sich in der gedrückten Stellung, in der sie arbeiten, am behaglichsten zu fühlen;

ihre Gesichtsfarbe wird schmutziggelb, ihre Gesichtszüge drücken Angst aus, sie klagen über Beklommenheit auf der Brust; ihre Stimme wird rauh und heiser, sie husten laut, wie wenn die Luft durch eine hölzerne Röhre getrieben würde.

Von Zeit zu Zeit expektorieren [= aushusten] sie bedeutende Quantitäten Staub, entweder mit Schleim vermengt oder in kugel- oder zylinderförmigen Massen mit einem dünnen Überzuge von Schleim. Blutspeien, Unfähigkeit zu liegen. Nachtschweiß, kolliquative Diarrhöe, ungewöhnliche Abmagerung mit allen gewöhnlichen Symptomen der Lungenschwindsucht raffen sie endlich hin, nachdem sie monate-, ja oft jahrelang gesiecht haben, unfähig, sich und die Ihrigen durch Arbeit zu ernähren. Ich muß hinzufügen, daß alle Versuche, die bis jetzt gemacht wurden, das Schleifer-Asthma zu verhindern oder zu heilen, gänzlich fehlgeschlagen sind.«

Dies schrieb Knight vor zehn Jahren; seitdem hat sich die Zahl der Schleifer und die Wut der Krankheit vermehrt, man hat aber auch Versuche gemacht, durch verdeckte Schleifsteine und Ableitung des Staubes durch Zug der Krankheit zuvorzukommen.

Diese sind wenigstens teilweise gelungen, aber die Schleifer selbst wollen ihre Anwendung nicht und haben sie sogar hier und da zerschlagen - weil sie glauben, daß dadurch mehr Arbeiter in ihr Geschäft kommen und ihren Lohn drücken wurden; sie sind für »ein kurzes Leben, aber ein lustiges«.

Dr. Knight hat oft Schleifern, die mit den ersten Symptomen des Asthma zu ihm kamen, gesagt: Ihr holt euch den Tod, wenn ihr wieder zurück zum Schleifstein geht. Aber es hat nie geholfen; wer einmal Schleifer war, der war auch verzweifelt, als ob er sich dem Teufel verkauft hätte."
[Engels S. 421 f]


nach oben


Mortalitäts- und Morbiditäts-Verhältnisse der Metallschleifer

1882 veröffentlichte Dr. A. Oldendorff, praktischer Arzt in Berlin, einen Aufsatz über "Die Mortalitäts- und Morbiditäts-Verhältnisse der Metallschleifer in Solingen und Umgegend, sowie in Remscheid und Kronenberg". Ausgangspunkt war "[...] die Thatsache der excessiven Mortalität und Morbidität der Schleifer" [Sterblichkeits- und Erkrankungsziffern], die Oldendorff wissenschaftlich belegen wollte. Daran hatte sich also nichts geändert.

Basis der Untersuchungen waren Zivilstandsregister der Bürgermeistereien Solingen, Dorp, Gräfrath, Höhscheid, Merscheid, Wald, Remscheid und Kronenberg sowie Sterberegister der ersten sechs Gemeinden.

Um Einflüsse der sonstigen Lebensumstände auszuschließen, wurden sie in die Untersuchung einbezogen. Der Aufsatz verrät daher auch manches über die Lebensbedingungen der bergischen Schleifer in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Die entsprechenden Passagen sind hier zitiert.


Schleifer
 
Schleiferwerkstatt
Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen

"Die Metallschleifer des in Rede stehenden Industriebezirks sind im allgemeinen weit günstiger gestellt, als die Mehrzahl der anderen auf gleicher socialer Stufe befindlichen Bevölkerungsklassen.

Ihre Nahrung ist eine kräftige, ihr Verdienst ein verhältnismässig hoher, sie befinden sich früh in der Lage, selbständige Bürger mit eigenem Heerde zu werden. Von günstigem Einfluss ist ferner die eigenthümliche zerstreute Bauart der betreffenden Gemeinden, in welchen, mit alleiniger Ausnahme von Solingen, das Getrenntwohnen in einzelnen Gehöften überwiegt. Die meisten Wohnungen sind überdies hinreichend hoch, luftig, trocken, und wie im Bergischen überhaupt, sehr reinlich gehalten.

Ein überaus günstiges Moment ist endlich der Umstand, dass die in dem Bezirk seit Jahrhunderten einheimische Eisen- und Stahlfabrikation vorzugsweise den Charakter der Hausindustrie trägt. Die Fabrikation der Eisenwaaren geschieht demgemäss vorwiegend in kleineren, im Ganzen und Grossen genügend geräumigen Arbeitsstätten.

Speciell die Schleifer arbeiten, je nachdem Wasser- oder Dampfkraft verwendet wird, in sogenannten Schleifkotten oder in Dampfschleifereien. Die an den Gewässern der meist engen Thäler gelegenen Schleifkotten sind kleine Gebäude mit meist feuchten, kellerartigen Räumen, die auf der Höhe gelegenen Dampfschleifereien hingegen grössere Gebäude mit meist trockenen, mehr oder weniger geräumigen Sälen. Von Belang erscheint, dass demgemäss die Zahl der in den Arbeitsräumen aufgestellten Schleifsteine in den Schleifkotten erheblich geringer ist, als in den Dampfschleifereien.

Nach der Polizei-Verordnung der Kgl. Regierung zu Düsseldorf vom 7. Juli 1875 müssen übrigens die Arbeitsräume mit geeigneten Ventilationsvorrichtungen versehen sein.

Von grossem Einfluss ist, dass in Folge der stark ausgebildeten Hausindustrie ein relativ grosser Theil der Arbeiter neben ihrem gesundheitsgefährlichen Gewerbe noch eine gesündere Nebenbeschäftigung betreiben, wie Landwirthschaft, Handel u. dgl. [...]

Nach den Eindrücken, die wir empfangen haben, scheint es ferner nicht erlaubt zu sein, von einer die Lebensdauer erheblich beeinflussenden sittlichen Verkommenheit der Bevölkerung zu sprechen. Speciell die Schleifer machen in ihrer überwiegend grossen Mehrzahl den Eindruck fleissiger, in geordneten Verhältnissen lebender Arbeiter, welche sich in dieser Beziehung von anderen auf gleicher socialer Stufe stehenden nur vorteilhaft unterscheiden. Der Genuss spirituöser Getränke ist im Allgemeinen zwar beliebt, ein Missbrauch scheint aber bei den Schleifern wenigstens nicht in einem höheren Maasse stattzufinden, als bei den anderen Arbeiterkategorien.

Noch ein anderer Punkt kommt hier in Betracht. Da die Metallindustrie, wie erwähnt, seit Jahrhunderten in dem in Rede stehenden Bezirk betrieben wird, bei der überwiegend grossen Mehrzahl der Schleifer aber das Gewerbe vom Vater auf den Sohn vererbt wird - [...] - muss die Frage aufgeworfen werden, ob nicht etwa die Vererbung des notorisch gesundheitsschädlichen Gewerbes von Generation auf Generation im Laufe der Zeit die physische Beschaffenheit dieser sesshaften Arbeiterbevölkerung depravirt [=verdorben] habe. Aber auch dies scheint nicht der Fall zu sein. [...] Seit 1811 hat übrigens [...] die Vererbung des Schleifergewerbes von Vater auf Sohn stetig abgenommen. [...]

Wenn trotz dieser relativ sehr günstigen äusseren Verhältnisse die Schleifer eine excessiv hohe Sterblichkeit zeigen, so darf diese als durch die Beschäftigung an sich veranlasst angesehen werden. [...]

Bekanntlich ist es vor Allem der beim Trockenschleifen, Pliessen, Poliren, Bürsten, Schärfen der stumpf gewordenen Schleifsteine sich massenhaft entwickelnde, aus Metall und Sandsteinpartikeln bestehende Schleifstaub, der dieses Gewerbe so besonders gesundheitsgefährlich macht. Das Nassschleifen ist hingegen, da hierbei die sich loslösenden angefeuchteten Stein- und Eisenpartikel eine breiartige Masse, den sog. Schleifschlamm bilden, mit Staubentwicklung nicht weiter verknüpft; die Arbeiter sind aber in Folge des herumspritzenden Schleifschlamms den Gefahren der Durchnässung ausgesetzt und beim Schleifen grosser und schwerer Artikel, das nur auf grösseren nassen Steinen geschieht, auch erheblicheren körperlichen Anstrengungen unterworfen. [...]"


Die von Oldendorff erhobenen Daten sprechen für sich und repräsentieren auch die Solinger Schleiferfamilien Mutz. Im Zeitabschnitt 1850-1874 wurden in Solingen und Umgebung die über 20jährig verstorbenen Schleifer durchschnittlich 39,4 Jahre alt, die Eisenarbeiter durchschnittlich 48,3 Jahre und die übrige männliche Bevölkerung durchschnittlich 54,4 Jahre. Damit lag das Durchschnittsalter der (Trocken-) Schleifer in diesem Zeitraum um 15 Jahre unter dem der übrigen Bevölkerung.


"Bezüglich der Schleifer kann dies nicht weiter überraschen. Die überwiegend große Mehrzahl der Schleifer geht an der Schleiferkrankheit, dem Schleiferasthma, zugrunde, und diese Krankheit stellt sich bekanntlich dar als eine durch das Eindringen des Schleifstaubes in das Lungengewebe verursachte, unter dem Bilde der Lungenschwindsucht verlaufende, äusserst chronische Lungenaffection, die sich indessen von der Phthisis [= mit Schrumpfung und Einschmelzung des Lungengewebes verbundene Lungentuberkulose] durch ihren langsamen und eigenartigen Verlauf, durch ihre geringere Abhängigkeit von hereditärer [= erblicher] Disposition, sowie, was namentlich hygienisch wichtig erscheint, dadurch unterscheidet, dass der selbst weit vorgeschrittene Krankheitsprocess zum Stillstand gebracht und Heilung erzielt werden kann, sobald die erkrankten Arbeiter ihre gefährliche Beschäftigung aufgeben. [...]

Neben der erörterten Schleiferkrankheit sind die Schleifer relativ häufig acuten Lungenaffectionen (intercurrenten Pleuro-Pneumonien), Rheuma, Herzleiden und Augenaffectionen unterworfen". [Oldendorff]


In seinem Aufsatz bezieht sich Oldendorff auch auf "Die Lehre von der Mortalität und Morbidität" von Harald Westergaard (Jena 1881). Hier findet sich ein weiterer Hinweis auf die Lebensverhältnisse der Schleifer um das Jahr 1875: Die große Mehrzahl war von Jugend auf im Schleifergewerbe tätig. Sie heirateten relativ früh, viele bereits vor dem 20. Lebensjahr. Von den 20- bis 30jährigen war fast die Hälfte verheiratet.

Westergaard: "Obgleich die anderen Gewerbe auch schädlich genug sein können, scheinen doch namentlich die Gesundheitsverhältnisse der Schleifer Aufmerksamkeit zu verdienen, und es darf für erwiesen angesehen werden, dass die Lungenschwindsucht diejenige Krankheit ist, die in diesem Gewerbe die grössten Verheerungen anrichtet. [...] Die Sterblichkeit in der gewöhnlichen Bevölkerung ist im 30jährigen Alter und darüber nicht halb so gross wie unter den Schleifern."



Quellen:
  • Beermann (1993)
  • Engels (1844/45)
  • Hocker (1867)
  • Oldendorff (1882)
  • Rosenthal Bd. 2 (1972)
  • Stremmel (1991) / Dr. Spiritus (1823)

Übersicht Klingenhandwerker      nach oben     

www.zeitspurensuche.de
Copyright © 2002 Marina Alice Mutz. Alle Rechte vorbehalten.