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Unfälle durch zerspringende SchleifsteineWolfgang Niederhagen: Kuckesberger Kotten (1994)Gesundheitsgefährdend und sogar lebensgefährlich war die Arbeit der Schleifer aus vielen Gründen - auch noch im 20. Jahrhundert! Was passieren konnte, schildern auf eindringliche Weise Alfred Müller in seinem Mundart-Gedicht "Der Wopperschlieper" und aus eigenem Erleben Wolfgang Niederhagen in seinem autobiographischen Buch "Wegbeschreibung". Der folgende "Zwischenfall" ereignete sich Ende der 1950er Jahre im Ohligser Kuckesberger Kotten: |
"Das Wasser, das den drehenden Stein naß hielt, damit die zu schärfende Klinge nicht durch Reibungshitze Schaden nahm, wirbelte durch den ganzen Raum als feiner Dunst, kroch in die Kleider und ließ die Männer früh rheumatisch und krumm werden.
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Neben anderen gesundheitlichen Gefahren, die der Beruf mit sich brachte, waren die Schleifer also auch dadurch gefährdet, dass Schleifsteine zerspringen und die herumfliegenden Teile die Schleifer schwer - auch tödlich - verletzen konnten.
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Grabstein des Schleifers Johann Daniel Voos Abb. bei Rosenthal 1 S. 273 |
Das folgende Bild zeigt den gesprungene Schleifstein als Grabmal eines verunglückten Schleifers auf dem Friedhof Widdert, Höhscheid: "Hier ruht in Gott Reinh. Meis geb. 3.10.48 gest. 16.3.97." |
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Grabstein des Schleifers Reinhard Meis Abb. bei Hendrichs (1933) S. 214 |
Solche Grabsteine gab es früher öfter auf Solinger Friedhöfen. Sie sollen schon Ende des 19. Jh. bis auf zwei Schleifsteinstücke auf dem evangelischen Friedhof zu Solingen verschwunden gewesen sein. Die beiden damals noch vorhandenen trugen folgende Inschriften:
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Dr. Johann Wilhelm Spiritus (1823)1823 - nur ein Jahr vor dem tödlichen Unfall von Johann Daniel Voos - hatte sich der Arzt Dr. Johann Wilhelm Spiritus (1787-1848) in seiner "medizinischen Topographie des Kreises Solingen" genötigt gesehen, auf die Gefährdungen der Schleifer durch Arbeitsunfälle hinzuweisen: |
§ 102
"In gesundheitspolizeilicher Hinsicht verdienen diese Schleifmühlen eine ernste Rüge, da sich in ihnen so manche Unglücksfälle zutragen, denen wohl vorgebeugt werden könnte. Sie sind fast alle dumpf, ohne Licht, ungediehlt und oft so baulos [baufällig], daß sie täglich dem Einsturze drohen. Schon dadurch werden sie der Gesundheit im allgemeinen nachtheilig, was aber noch mehr ist, so setzt die mangelhafte innere Structur das Leben des Schleifers in Gefahr, daher es nicht wenige Familien aus dieser Classe von Arbeitern gibt, die nicht in einer Reihe von Jahren durch einen Unglücksfall im Schleifkothen in Trauer versetzt worden sind. Ein erfahrener Schleifer zählte in einem Zeitraum von zehn Jahren nemlich von 1810 bis 1820 zwei und dreißig größere und kleinere Unglücksfälle dieser Art auf.
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Georg Freiherr von Hauer (1832)Mit dieser skeptischen Prognose behielt Dr. Spiritus leider Recht. Ein Jahrzehnt später thematisierte Georg Freiherr von Hauer in seiner "Statistischen Darstellung des Kreises Solingen" (1832) diese besonderen Gefahren des Schleiferberufes erneut. Inzwischen hatte sich offenbar wenig verbessert: |
"Von den äußeren Schäden, die nicht selten gefährliche Verwundungen und sogar den Tod herbeiführen, dürfen wir das Zerspringen der Schleifsteine nicht unerwähnt lassen, das oft die gräßlichsten Verletzungen der Arbeiter verursacht. Auf hölzernen Scheiben, die beim Poliren feiner Gegenstände gebraucht werden, mindert man die Gefahr durch Beziehen der Schleifbahn mit Leder, wodurch zwar nicht das Zerspringen selbst, wohl aber das Auseinanderfliegen der Stücke und damit die Verwundung des Schleifers verhütet wird.
worin a den Stein, b den erwähnten Bock, g einen Zapfen zum Richten des Bocks und c den Sitz des Schleifers bezeichnet. Springt der Stein, so prallen die Stücke gegen das Gerüste und fallen ohne Kraft und Nachtheil zwischen dieses und den Stein selbst zu Boden, weil die Wirkung der Rotation und die Schwingungen sich gehemmt findet, die Stücke also nicht gegen den Kopf des Arbeiters geworfen werden können.
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Die Idee einer Schutzvorrichtung war fraglos richtig, aber dass die abgebildete elegante hölzerne Konstruktion, die an die Kreationen eines zeitgenössischen Designers erinnert, Unfälle durch zerspringende Schleifsteine verhindern könnte, ist kaum zu glauben. Die Fliehkräfte eines schnell rotierenden großen Steins dürften sich hierdurch nicht entscheidend bremsen lassen. Ob das Leder die Pliestscheiben am Auseinanderfliegen hindern kann, zumindest dann, wenn es als Schnur um die Scheibe gelegt ist, sei dahingestellt. Von Unfällen durch Zerspringen hölzerner, mit Leder "gesicherter" Pliestscheiben ist jedenfalls in der mir bekannten Literatur nichts überliefert.
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Vergleichsweise vertrauenerweckend wirkt diese spätere eiserne Schutzvorrichtung. Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen |
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Dieser Stein mit eiserner Abdeckung ist im Balkhauser Kotten in Solingen zu sehen.
Schleifermuseum Balkhauser Kotten |
Nachlässigkeit als Unfall-Ursache?
Das Zerspringen der Schleifsteine wurde nicht selten auf angebliche "Nachlässigkeiten des Schleifers" zurückgeführt. So stellte man 1880 fest, dass "die Steine vor dem Aufbringen auf die Achse nicht genügend revidiert wurden und andererseits überhaupt vom Transport beschädigte Steine angenommen wurden. Auch Risse oder Sprünge, die gegebenenfalls nachträglich entständen, würden nicht angegeben, obwohl man dies am Gange des Steines hören könne. [...] Aus Kostengründen wurde ein Nacharbeiten der Steine unterlassen, weil er dadurch 2/3 Zoll rundherum verlor.
Die größeren Steine kosteten damals die hohe Summe von 125,- bis 130,- Mark. Schleifer konnten diese kaum bezahlen. Es war bis dahin offen, wer die Kontrolle ausüben und wer haftbar gemacht werden sollte." |
"Bei den Solinger Schwertarbeitern." Von Schutzvorrichtungen ist nichts zu sehen. Detail aus einer idealisierenden Zeichnung von Hermann Würz (um 1850) |
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Abb. bei Horstmann |
Der Schleifstein auf der Abb. rechts ist mit Holzkeilen auf der Achse befestigt und nicht mit einer Schutzvorrichtung umkleidet. Für den Schleifer bedeutete dies eine ständige Gefahr. Sprang der Stein während der Arbeit in Stücke, war seine Überlebenschance gering. Diese ungeschützten Steine liefen mit einer Oberflächen-Geschwindigkeit von 10 bis 12 Meter in der Sekunde. [Horstmann S. 70]
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Solinger Kreis-Intelligenzblatt vom 4. Mai 1892
"In einer hiesigen Schleiferei (in Solingen) zersprang gestern ein mittelgroßer Stein, während der Schleifer an demselben arbeitete. Trotzdem ging der Unfall ohne Beschädigung des Mannes von Statten, da der Schutzbock alle Trümmer auffing. Nur ein Sprengstück nahm seinen Weg durch ein Fenster, in dem es eine Scheibe zertrümmerte." |
Ein weiterer - allerdings tödlicher - Unfall, geschehen im Weinsberger Bachtal, ist von Anfang des 20. Jh. überliefert. Der Federmesserausmacher und Nebenerwerbs-Weinbauer Karl Heller aus Höhscheid soll zu Tode gekommen sein, als ihm beim Schleifen ein großer Stein zersprang. [solingen aktuell, April 2004, S. 7] (Karl Heller war Mitglied der Erbengemeinschaft des Wittekottens, die Ende 1909 aufgehoben wurde.) [Lunkenheimer S.203] |
Die (einzigen?) wirklich überzeugenden Argumente für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen waren auch früher schon die wirtschaftlichen:
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Unfallgefahren am Arbeitsplatz des Schleifers
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Antriebsraum im Obenfriedrichstaler Kotten Zeichnung von Arthur Uellendahl, Abb. bei Hendrichs (1922) |
Die Schleifer waren nicht nur durch "fliegende" Schleifsteine gefährdet. Heinz Rosenthal berichtet 1967 in seiner Geschichte von Wald über einen anderen Unglücksfall Anfang des 19. Jh.: "Ein aufregendes Ereignis war der Unfall des Schleifers Johann Abraham Claas, der am 28.5.1804 im Plückerskotten an der Itter den Treibriemen auf das Hehlrad werfen wollte, von dessen Achse ergriffen und unzählige Male herumgeschleudert wurde. Der Unglückliche ist nach acht Tagen gestorben. Pastor Engels hat über diesen Unfall ausführlich im Kirchenbuch berichtet. Das 'Hehlrad' wird heute als 'Holrad' oder 'Hollrad' bezeichnet; die Walder haben aber damals sprachgeschichtlich vollkommen richtig den älteren Ausdruck für das Schwungrad gebraucht." [Rosenthal 1967, S. 49] Sterbebucheintrag Johann Abraham Claas Solche Unfälle geschahen nicht nur in den altertümlichen wasserbetriebenen Kotten, sondern ebenso in den Dampfschleifereien, die in den 1850er Jahren zunehmend eingerichtet wurden. Hier trieb anstelle der Wasserkraft eine Dampfmaschine die Schleifsteine über Transmissionsanlagen an. Fehlende oder mangelhafte Abdeckungen der Transmissionswellen führten auch hier immer wieder zu Unfällen. |
Ortspolizeiverordnung vom 9. Juni 1858
Ein tödlicher Unfall in der Theegartenschen Dampfschleiferei und Drahtstiftefabrikation zu Buscherfeld in Gräfrath veranlasste die Düsseldorfer Regierung im März 1858 zur Verordnung wirksamerer Sicherheitsmaßnahmen. Alle Fabrikanlagen, "in welchen Wellenleitungen, Riemscheiben und ähnliche in raschem Umlauf bewegte Maschinenteile sich bis zu 6 Fuß von dem Fußboden der Arbeitsräume befinden ... (sind) durch solide Bretterverkleidung, die Riemscheiben und Zahnräder aber mittelst brettener Kästen gegen unvorsichtige Annäherung zu schützen und soweit frei zu lassen, als der Zweck der Anlage behufs der Arbeit erfordert." [Thiemler S. 21; angeg. Quelle: HStAD L.A. Solingen 657 vol. I Bl. 44]
"1. Die Bedeckungen der Wellenleitungen seien von den Schleifern fahrlässig oder böswillig zerstört worden.
Unfall in der Schleiferei Linder
So zum Beispiel in der Schleiferei Linder in Oben-Itter im Mai 1889: Ein Schleifer blieb an einem einige Zentimeter vorstehenden eisernen Keil der Transmissionswelle hängen und verunglückte tödlich. Seine Kollegen gaben an, die Besitzerin sei häufiger auf die Gefahr hingewiesen worden, ohne dass sie sich um Abhilfe gekümmert hätte. [Thiemler S. 21; angeg. Quelle: StAS W 1823, Bl. 104]
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Bekleidungsvorschriften
Den Arbeitern wurde aus Sicherheitsgründen die sinnvolle Auflage gemacht, enganliegende Kleidung zu tragen [Thiemler S. 21; angeg. Quelle: HStAD L.A. Solingen 657 vol. I Bl. 60], was in gut geführten Betrieben wohl ohnehin üblich gewesen ist. Auch auf alten Darstellungen sind keine flatternden Kleidungsstücke zu sehen.
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Bergisches Volksblatt vom 6. Juni 1856
Amtliche Bekanntmachungen. Polizei-Verordnung.
Nachdem wahrgenommen worden, daß die in den hiesigen Schleifereien beschäftigten Mädchen, außerhalb derselben in eng anliegenden Manns- oder Knabenkleidern erscheinen, die ihre körperlichen mehr oder weniger entwickelten Formen vollständig darbieten, wird auf Grund des Gesetzes über die Polizei-Verwaltung vom 11. März 1850 hiermit verordnet, daß die in den Schleifereien beschäftigten Mädchen sich außerhalb derselben in Manns- oder Knabenkleidern nicht sehen lassen dürfen, vielmehr alsdann stets über ihren Arbeits-Anzug ein Ueberkleid zu tragen haben.
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Christoph Alexander von Keller Bürgermeister in Solingen (1843-1858) |
Immerhin wurden die Mädchen nicht gezwungen, sich bei der Arbeit durch verhüllende Stofffülle zusätzlichen Risiken und Gefahren aussetzen.
"Weibliche Schleifer im Solinger Industriebezirk.
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Sittengefährdende Bekleidung? Anna Wirtz, Tochter eines Ittertaler Kottenbesitzers, hatte damit anno 1900 wahrscheinlich keine Probleme mehr - zumal die Verordnung inzwischen aufgehoben war. Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen, Detail |
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1962 arbeitete Schleiferin Elfriede B. im Untenrüdener Kotten. Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen |
Quellen:
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