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Unfallgefahren am Arbeitsplatz des Schleifers

Unfälle durch zerspringende Schleifsteine
-   Wolfgang Niederhagen: Kuckesberger Kotten (1994)
-   Dr. Johann Wilhelm Spiritus (1823)
-   Georg Freiherr von Hauer (1832)
-   Nachlässigkeit als Unfall-Ursache?
  Ernst Knupp: Hasselskotten (ca. 1925)

Unfälle durch bewegte Maschinenteile
-   Ortspolizeiverordnung vom 9. Juni 1858
-   Unfall in der Schleiferei Linder (1889)
-   Bekleidungsvorschriften



Unfälle durch zerspringende Schleifsteine

Wolfgang Niederhagen: Kuckesberger Kotten (1994)

Gesundheitsgefährdend und sogar lebensgefährlich war die Arbeit der Schleifer aus vielen Gründen - auch noch im 20. Jahrhundert! Was passieren konnte, schildern auf eindringliche Weise Alfred Müller in seinem Mundart-Gedicht "Der Wopperschlieper" und aus eigenem Erleben Wolfgang Niederhagen in seinem autobiographischen Buch "Wegbeschreibung". Der folgende "Zwischenfall" ereignete sich Ende der 1950er Jahre im Ohligser Kuckesberger Kotten:


Wolfgang Niederhagen: Schleifer

"Das Wasser, das den drehenden Stein naß hielt, damit die zu schärfende Klinge nicht durch Reibungshitze Schaden nahm, wirbelte durch den ganzen Raum als feiner Dunst, kroch in die Kleider und ließ die Männer früh rheumatisch und krumm werden.

Die Arbeit am 'nassen Stein' war nicht nur ungesund, sondern auch gefährlich, weil es immer mal wieder vorkam, daß ein Stein 'flog', also plötzlich durch seine Fliehkraft auseinanderbarst und die zentnerschweren Trümmer den Mann zum Krüppel machten oder gar totschlugen. Auch ich erlebte mit, wie so eine tonnenschwere Steinscheibe zerriß, gerade in dem Moment, als der alte Schleifer Fehrekampf eine kleine Pause machte, um seinen nassen Rücken am großen Eisenofen zu wärmen.

Ein dumpfer Schlag ließ das Haus erzittern, Sekunden später sprangen die Männer unter Geschrei und Blotschengetöse die Treppe hinunter und blieben dann wie erstarrt stehen. Das steinerne Monstrum war in drei Stücke gesprungen, hatte das schützende Eisengeschirr zum Teil zerschlagen, und einer der Brocken hatte das Sitzbrett des Schleifers weggefegt. Fahl und zitternd stand der Alte am Ofen, auch er brachte kein Wort heraus. Dann, nach einiger Weile sagte jemand 'dat hat jo noch ens jot jejangen'! Der dicke Mutz holte die Schnapsflasche, wir nahmen alle einen kräftigen Schluck."

© 1994 Wolfgang Niederhagen, Wegbeschreibung, S. 203



Neben anderen gesundheitlichen Gefahren, die der Beruf mit sich brachte, waren die Schleifer also auch dadurch gefährdet, dass Schleifsteine zerspringen und die herumfliegenden Teile die Schleifer schwer - auch tödlich - verletzen konnten.

  Auf dem Alten Friedhof in Wald wurde auf dem Grab des 28jährigen Schleifers Johann Daniel Voos der zerbrochene Schleifstein aufgestellt, der ihn 1824 das Leben gekostet hat. Nach einer Notiz im Solinger Stadtarchiv verunglückte er "im Schleifkotten in der Mittel-Itter", also im Trinnskotten oder im Mutzkotten. Der Stein soll später im Hausflur des Wipperkottens vermauert worden sein. Eingraviert sind die Worte: "welcher 10 den September 1824 durch diesen Stein sein Leben eingebuset hatt".


Grabstein
 
Grabstein des Schleifers
Johann Daniel Voos
Abb. bei Rosenthal 1 S. 273

  Das folgende Bild zeigt den gesprungene Schleifstein als Grabmal eines verunglückten Schleifers auf dem Friedhof Widdert, Höhscheid: "Hier ruht in Gott Reinh. Meis geb. 3.10.48 gest. 16.3.97."


Grabstein
 
Grabstein des Schleifers
Reinhard Meis
Abb. bei Hendrichs (1933) S. 214

Solche Grabsteine gab es früher öfter auf Solinger Friedhöfen. Sie sollen schon Ende des 19. Jh. bis auf zwei Schleifsteinstücke auf dem evangelischen Friedhof zu Solingen verschwunden gewesen sein. Die beiden damals noch vorhandenen trugen folgende Inschriften:

  "Hier ruht Aug. Lauterjung, verunglückt am 8. Januar 1880, geb. den 7. Januar 1858. Wachet und betet, denn Ihr wisset nicht Zeit noch Stunde, in welcher der Herr kommen wird. Gewidmet von seinen Freunden."

  "Hier ruht Wilhelm Erdelen, geb. am. 13. August 1848, verunglückt in der Dampfschleiferei auf der Schützenhöhe am 13. März 1873. Gewidmet von mehreren Schleifern."

  Über alte bergische Sitten bei Tod und Begräbnis




Dr. Johann Wilhelm Spiritus (1823)

1823 - nur ein Jahr vor dem tödlichen Unfall von Johann Daniel Voos - hatte sich der Arzt Dr. Johann Wilhelm Spiritus (1787-1848) in seiner "medizinischen Topographie des Kreises Solingen" genötigt gesehen, auf die Gefährdungen der Schleifer durch Arbeitsunfälle hinzuweisen:


§ 102

"In gesundheitspolizeilicher Hinsicht verdienen diese Schleifmühlen eine ernste Rüge, da sich in ihnen so manche Unglücksfälle zutragen, denen wohl vorgebeugt werden könnte. Sie sind fast alle dumpf, ohne Licht, ungediehlt und oft so baulos [baufällig], daß sie täglich dem Einsturze drohen. Schon dadurch werden sie der Gesundheit im allgemeinen nachtheilig, was aber noch mehr ist, so setzt die mangelhafte innere Structur das Leben des Schleifers in Gefahr, daher es nicht wenige Familien aus dieser Classe von Arbeitern gibt, die nicht in einer Reihe von Jahren durch einen Unglücksfall im Schleifkothen in Trauer versetzt worden sind. Ein erfahrener Schleifer zählte in einem Zeitraum von zehn Jahren nemlich von 1810 bis 1820 zwei und dreißig größere und kleinere Unglücksfälle dieser Art auf.

Die meiste Gefahr bietet das zweckwidrig angebrachte innere Getriebe, von welchem vor allen unerfahrene Lehrlinge häufig fortgerissen und zerschmettert werden. Es bedarf hier kaum der Erwähnung, daß die Sicherung so leicht durch Bedeckung und Absonderung desselben bezweckt werden kann. Eine andere nicht minder wichtige Gefahr führt das Sprengen der Schleifsteine mit sich, welches so leicht möglich ist und so manchem Schleifer bereits das Leben kostete. In den englischen Schleifmühlen kennt man diese Gefahr nicht, dort werden die Schleifsteine zu beiden Seiten, ohne daß es das Schleifen hindert, mit einem eisernen Reifen eingefaßt.

Diese oder eine ähnliche Vorrichtung verdiente auch in den hiesigen Schleifmühlen eingeführt zu werden. Leider finden aber Vorschläge der Art immer großen Widerspruch, ist gleich das Gute, was dadurch erzielt wird, augenscheinlich. Daher dürfte auch in dieser Angelegenheit noch so bald keine Abänderung zu erwarten seyn."

[Spiritus 1823 / Stremmel 1991, § 102, S. 201 f]




Georg Freiherr von Hauer (1832)

Mit dieser skeptischen Prognose behielt Dr. Spiritus leider Recht. Ein Jahrzehnt später thematisierte Georg Freiherr von Hauer in seiner "Statistischen Darstellung des Kreises Solingen" (1832) diese besonderen Gefahren des Schleiferberufes erneut. Inzwischen hatte sich offenbar wenig verbessert:


"Von den äußeren Schäden, die nicht selten gefährliche Verwundungen und sogar den Tod herbeiführen, dürfen wir das Zerspringen der Schleifsteine nicht unerwähnt lassen, das oft die gräßlichsten Verletzungen der Arbeiter verursacht. Auf hölzernen Scheiben, die beim Poliren feiner Gegenstände gebraucht werden, mindert man die Gefahr durch Beziehen der Schleifbahn mit Leder, wodurch zwar nicht das Zerspringen selbst, wohl aber das Auseinanderfliegen der Stücke und damit die Verwundung des Schleifers verhütet wird.

Hier ist indessen die Gefahr auch weniger groß, als bei Steinen, wo sowohl fehlerhaftes Einhängen, als unversichtiger Gebrauch und Mangel an Achtsamkeit auf vorhandene Mängel das Ereigniß leicht herbeiführen.

Zu letzteren gehören das allzu starke Rosten der eisernen Achsen und etwa schon beschädigte Stellen im Steine selbst, die durch fehlerhafte Verbindung desselben mit der Achse entstehen, wodurch eine nachtheilige Reibung verursacht wird, die dann zunächst das Zerspringen schadhafter Steine zur Folge hat, bei welchem vermöge der starken Rotation die Stücke mit heftiger Gewalt weggeschleudert werden, und alles in der Richtung ihres Wurfs nahe Stehende verletzen. Dieses Wegschleudern kann nicht Statt finden, wenn die Steine mit einem sogenannten Bock umgeben werden, einem aus Brettern verfertigten Gerüste, das etwa 4 Zoll vom Steine absteht und sich in Form eines Halbringes bis gegen den Sitz des Schleifers hinüberzieht, wie in nachstehender Figur sich zeigt,

worin a den Stein, b den erwähnten Bock, g einen Zapfen zum Richten des Bocks und c den Sitz des Schleifers bezeichnet. Springt der Stein, so prallen die Stücke gegen das Gerüste und fallen ohne Kraft und Nachtheil zwischen dieses und den Stein selbst zu Boden, weil die Wirkung der Rotation und die Schwingungen sich gehemmt findet, die Stücke also nicht gegen den Kopf des Arbeiters geworfen werden können.

Beim Schleifen der Klingen, die mitunter der Länge nach an die Schleifseite des Steins (f) gehalten werden müssen, ist diese, übrigens sehr sichernde, Vorrichtung nur nicht immer anwendbar, weil ihre vorspringende Spitze dann hinderlich wird."

[Frh. v. Hauer (1832) S. 302 f]


Die Idee einer Schutzvorrichtung war fraglos richtig, aber dass die abgebildete elegante hölzerne Konstruktion, die an die Kreationen eines zeitgenössischen Designers erinnert, Unfälle durch zerspringende Schleifsteine verhindern könnte, ist kaum zu glauben. Die Fliehkräfte eines schnell rotierenden großen Steins dürften sich hierdurch nicht entscheidend bremsen lassen. Ob das Leder die Pliestscheiben am Auseinanderfliegen hindern kann, zumindest dann, wenn es als Schnur um die Scheibe gelegt ist, sei dahingestellt. Von Unfällen durch Zerspringen hölzerner, mit Leder "gesicherter" Pliestscheiben ist jedenfalls in der mir bekannten Literatur nichts überliefert.

Wirksamer dürfte bei großen Steinen folgende Methode gewesen sein: 1846 wurde "vorgesehen, die untere Hälfte des Steines zwischen den Lagerbalken des Fußbodens einzubauen."
[Stoppert S. 10; angeg. Quelle: HStA NK, Landratsamt Solingen, A. 657. Schreiben des Bürgermeisters von Scheuer an den Königlichen Landrat in Solingen betreffend die Genehmigung einer Verordnung, 25.06.1846]



 
Vergleichsweise vertrauenerweckend
wirkt diese spätere eiserne
Schutzvorrichtung.
Bild-Quelle: Stadtarchiv Solingen


 

 
Dieser Stein mit eiserner Abdeckung ist im Balkhauser Kotten in Solingen zu sehen.

  Schleifermuseum
Balkhauser Kotten



Nachlässigkeit als Unfall-Ursache?

Das Zerspringen der Schleifsteine wurde nicht selten auf angebliche "Nachlässigkeiten des Schleifers" zurückgeführt. So stellte man 1880 fest, dass "die Steine vor dem Aufbringen auf die Achse nicht genügend revidiert wurden und andererseits überhaupt vom Transport beschädigte Steine angenommen wurden. Auch Risse oder Sprünge, die gegebenenfalls nachträglich entständen, würden nicht angegeben, obwohl man dies am Gange des Steines hören könne. [...] Aus Kostengründen wurde ein Nacharbeiten der Steine unterlassen, weil er dadurch 2/3 Zoll rundherum verlor. Die größeren Steine kosteten damals die hohe Summe von 125,- bis 130,- Mark. Schleifer konnten diese kaum bezahlen. Es war bis dahin offen, wer die Kontrolle ausüben und wer haftbar gemacht werden sollte."
[Stoppert S. 13; angeg. Quelle: HStA NK, Landratsamt Solingen, A. 657. Schreiben des Bürgermeisters von Solingen an den Bürgermeister von Dorp vom 19.1.1880]

Mit welchem Gefühl mögen die Arbeiter geschliffen haben, die "am Gange des Steins" hörten, dass da etwas nicht stimmte? Musste der Branntwein womöglich manchmal herhalten, um die Nerven beruhigen?

Sicher waren nicht nur Nachlässigkeiten im Spiel: "Natursteine konnten trotz sorgfältiger Verkeilung auf der Laufachse nie hundertprozentig ausgewuchtet werden. Die Fliehkraft beim Laufen verursachte Unwuchten, die zusammen mit unsichtbaren Rissen im Stein zum Bersten führen konnten. Auch die Holzkeile selbst stellten eine Gefahr dar. Da am Stein nass geschliffen wurde, wurden auch die Keile nass und konnten durch Aufquellen den Stein sprengen. Die direkt vor dem Stein völlig ungeschützt arbeitenden Schleifer wurden in solchen Fällen fast immer von umherfliegenden Steinstücken getroffen - oft tödlich." [solingen aktuell, April 2004, S. 7 f]


Schleifer
"Bei den Solinger Schwertarbeitern." Von Schutzvorrichtungen ist nichts zu sehen. Detail aus einer idealisierenden Zeichnung von Hermann Würz (um 1850)
 
Schleifer
Abb. bei Horstmann

Der Schleifstein auf der Abb. rechts ist mit Holzkeilen auf der Achse befestigt und nicht mit einer Schutzvorrichtung umkleidet. Für den Schleifer bedeutete dies eine ständige Gefahr. Sprang der Stein während der Arbeit in Stücke, war seine Überlebenschance gering. Diese ungeschützten Steine liefen mit einer Oberflächen-Geschwindigkeit von 10 bis 12 Meter in der Sekunde. [Horstmann S. 70]

Schutzvorrichtungen waren zwar Ende des 19. Jh. bekannt, aber sie waren teuer und wurden von den Schleifern daher vielfach noch nicht genutzt. Dass sie lebensrettend sein konnten, zeigt folgende Zeitungsnotiz über einen Unfall im  Untenrüdener Kotten an der Wupper:


Solinger Kreis-Intelligenzblatt vom 4. Mai 1892

"In einer hiesigen Schleiferei (in Solingen) zersprang gestern ein mittelgroßer Stein, während der Schleifer an demselben arbeitete. Trotzdem ging der Unfall ohne Beschädigung des Mannes von Statten, da der Schutzbock alle Trümmer auffing. Nur ein Sprengstück nahm seinen Weg durch ein Fenster, in dem es eine Scheibe zertrümmerte."


Ein weiterer - allerdings tödlicher - Unfall, geschehen im Weinsberger Bachtal, ist von Anfang des 20. Jh. überliefert. Der Federmesserausmacher und Nebenerwerbs-Weinbauer Karl Heller aus Höhscheid soll zu Tode gekommen sein, als ihm beim Schleifen ein großer Stein zersprang. [solingen aktuell, April 2004, S. 7] (Karl Heller war Mitglied der Erbengemeinschaft des Wittekottens, die Ende 1909 aufgehoben wurde.) [Lunkenheimer S.203]




Die (einzigen?) wirklich überzeugenden Argumente für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen waren auch früher schon die wirtschaftlichen:

Erst als 1929 die Silikose als Berufskrankheit anerkannt wurde und Zahlungsverpflichtungen drohten, sahen die Berufsgenossenschaften Handlungsbedarf und drängten auf eine Einführung von Kunststeinen. Deren Qualität stellte die Schleifer anfangs zwar noch nicht zufrieden, aber von ihnen gingen keine Unfall- und Gesundheitsgefahren aus wie von den Natursteinen. 1930 wurde die Verwendung der Sandsteine verboten. Verwendet wurden sie aber auch später noch, wie die Geschichte am Anfang dieser Seite zeigt, und auch heute sind sie zu haben.

  Ein Schleifstein-Unfall im Hasselskotten (um 1860)
  Mehr über die Schleifsteine


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Unfallgefahren am Arbeitsplatz des Schleifers
durch Transmissionswellen und andere bewegte Maschinenteile


Antriebsraum
 
Antriebsraum im
  Obenfriedrichstaler Kotten
Zeichnung von Arthur Uellendahl,
Abb. bei Hendrichs (1922)

Die Schleifer waren nicht nur durch "fliegende" Schleifsteine gefährdet. Heinz Rosenthal berichtet 1967 in seiner Geschichte von Wald über einen anderen Unglücksfall Anfang des 19. Jh.:

"Ein aufregendes Ereignis war der Unfall des Schleifers Johann Abraham Claas, der am 28.5.1804 im Plückerskotten an der Itter den Treibriemen auf das Hehlrad werfen wollte, von dessen Achse ergriffen und unzählige Male herumgeschleudert wurde. Der Unglückliche ist nach acht Tagen gestorben. Pastor Engels hat über diesen Unfall ausführlich im Kirchenbuch berichtet. Das 'Hehlrad' wird heute als 'Holrad' oder 'Hollrad' bezeichnet; die Walder haben aber damals sprachgeschichtlich vollkommen richtig den älteren Ausdruck für das Schwungrad gebraucht." [Rosenthal 1967, S. 49]


Sterbebucheintrag Claas Sterbebucheintrag Johann Abraham Claas

Solche Unfälle geschahen nicht nur in den altertümlichen wasserbetriebenen Kotten, sondern ebenso in den Dampfschleifereien, die in den 1850er Jahren zunehmend eingerichtet wurden. Hier trieb anstelle der Wasserkraft eine Dampfmaschine die Schleifsteine über Transmissionsanlagen an. Fehlende oder mangelhafte Abdeckungen der Transmissionswellen führten auch hier immer wieder zu Unfällen.




Ortspolizeiverordnung vom 9. Juni 1858

Ein tödlicher Unfall in der Theegartenschen Dampfschleiferei und Drahtstiftefabrikation zu Buscherfeld in Gräfrath veranlasste die Düsseldorfer Regierung im März 1858 zur Verordnung wirksamerer Sicherheitsmaßnahmen. Alle Fabrikanlagen, "in welchen Wellenleitungen, Riemscheiben und ähnliche in raschem Umlauf bewegte Maschinenteile sich bis zu 6 Fuß von dem Fußboden der Arbeitsräume befinden ... (sind) durch solide Bretterverkleidung, die Riemscheiben und Zahnräder aber mittelst brettener Kästen gegen unvorsichtige Annäherung zu schützen und soweit frei zu lassen, als der Zweck der Anlage behufs der Arbeit erfordert." [Thiemler S. 21; angeg. Quelle: HStAD L.A. Solingen 657 vol. I Bl. 44]

Es darf unterstellt werden, dass die Maßnahmen in erster Linie dem Schutz der Arbeiter und erst in zweiter Linie dem der Fabrikanlagen dienen sollte. Eine entsprechende Ortspolizeiverordnung wurde am 9. Juni 1858 erlassen.

Die Unglücksfälle wurden von den Schleifereibesitzer gern als Folge von fahrlässigem Verhalten der Arbeiter dargestellt oder - nicht ganz von der Hand zu weisen - als Folge des Branntweinkonsums am Arbeitsplatz, der streng untersagt war, sich aber nicht unterbinden ließ. Daher wandten sich 1864 mehrere Solinger Dampfschleifereibesitzer gegen die erlassenen kostenträchtigen Schutzbestimmungen. In einem Schreiben an den Landrat argumentierten sie für die Aufhebung der Polizeiverordnung:

"1. Die Bedeckungen der Wellenleitungen seien von den Schleifern fahrlässig oder böswillig zerstört worden.
2. Die vorgeschriebenen hölzernen oder metallenen Schutzvorrichtungen bei den Riemenscheiben seien nicht möglich, weil die Riemen oft auf und abgelegt werden müssen.
3. Die Bedeckungen der Zahnräder seien überflüssig, weil sie außerhalb des Bereichs des Schleifens liegen.

Überhaupt kämen die Unglücksfälle fast nur durch eigene Fahrlässigkeit der Schleifer vor, weil sie zu nachlässig seien, nachlässige oder zerlumpte Kleigung trügen und vor allem wegen dem Branntweintrinken. Die Schleifer stünden nicht unter der Kontrolle des Fabrikbesitzers, sie arbeiteten wann und wenn es ihnen beliebt und sie seien vielfach roh und sehr zum Verderben geneigt.

Nach solchen Unglücksfällen würden die Schleifereibesitzer mit viel zu hohen Schadensersatzforderungen konfrontiert, was um so ungerechter sei, weil die Dampfschleifereien wegen des schlechten Eingangs der Mietgelder viel Verdruß und wenig Nutzen brächten. Statt der Polizeiverordnung sollten folgende Verbote für die Arbeiter erlassen werden:

Sie dürften sich ungeschützten Stellen nicht nähern,
sie müßten eng anliegende Kleidung tragen und
dürften keinen Branntwein trinken."

[Thiemler S. 21; angeg. Quelle: HStAD L.A. Solingen 657 vol. I Bl. 56-59]


Die Behörden wiesen diese Einwendungen zurück und hoben lediglich die Vorschrift für die Schutzvorrichtung an den Riemenscheiben auf. Zu offensichtlich ging es den Schleifereibesitzern schlicht um die Vermeidung von Regressansprüchen. [Thiemler S. 21; angeg. Quelle: HStAD L.A. Solingen 657 vol. I Bl. 60]

Verantwortlich für die Verkleidung der Wellenleitungen und Zahnräder waren die Schleifereibesitzer. Und nicht nur bei den Arbeitern, sondern auch bei ihnen kamen Nachlässigkeiten bei der Handhabung der Bestimmungen vor. Das Sicherheitsbewusstsein wird von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich und vielleicht auch davon abhängig gewesen sein, ob es sich um einen Familienbetrieb oder eine größere Lohnschleiferei handelte.

Jedenfalls kam es auch Jahrzehnte später noch zu Unfällen mit tödlichem Ausgang, weil Schleifer wegen mangelhafter Abdeckungen in die Transmissionswellen gerieten.


Unfall in der Schleiferei Linder

So zum Beispiel in der Schleiferei Linder in Oben-Itter im Mai 1889: Ein Schleifer blieb an einem einige Zentimeter vorstehenden eisernen Keil der Transmissionswelle hängen und verunglückte tödlich. Seine Kollegen gaben an, die Besitzerin sei häufiger auf die Gefahr hingewiesen worden, ohne dass sie sich um Abhilfe gekümmert hätte. [Thiemler S. 21; angeg. Quelle: StAS W 1823, Bl. 104]

Besitzerin der Schleiferei Linder dürfte Katharina (Trinn) Linder gewesen sein, die schon 1847 als Kottenbesitzerin genannt wird.


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Bekleidungsvorschriften

Den Arbeitern wurde aus Sicherheitsgründen die sinnvolle Auflage gemacht, enganliegende Kleidung zu tragen [Thiemler S. 21; angeg. Quelle: HStAD L.A. Solingen 657 vol. I Bl. 60], was in gut geführten Betrieben wohl ohnehin üblich gewesen ist. Auch auf alten Darstellungen sind keine flatternden Kleidungsstücke zu sehen.

Die Kleidung muss aber Mitte des 19. Jh. noch in anderer Hinsicht ein Thema gewesen sein. Staunend nimmt man folgende Polizei-Verordnung des um Anstand und Sitte besorgten Bürgermeisters von Keller zur Kenntnis:


Bergisches Volksblatt vom 6. Juni 1856
Amtliche Bekanntmachungen.
Polizei-Verordnung.

Nachdem wahrgenommen worden, daß die in den hiesigen Schleifereien beschäftigten Mädchen, außerhalb derselben in eng anliegenden Manns- oder Knabenkleidern erscheinen, die ihre körperlichen mehr oder weniger entwickelten Formen vollständig darbieten, wird auf Grund des Gesetzes über die Polizei-Verwaltung vom 11. März 1850 hiermit verordnet, daß die in den Schleifereien beschäftigten Mädchen sich außerhalb derselben in Manns- oder Knabenkleidern nicht sehen lassen dürfen, vielmehr alsdann stets über ihren Arbeits-Anzug ein Ueberkleid zu tragen haben.

Zugleich wird verordnet, daß die betreffenden Arbeitsgeber für die Befolgung dieser Verordnung verantwortlich sind und Zuwiderhandlungen mit Geldbuße von 15 Sgr. bis 3 Thlrn. oder mit verhältnismäßiger Gefängnisstrafe bestraft werden sollen.

Solingen, den 4. Juni 1856.
Der Bürgermeister: v. Keller.

v. Keller
Christoph Alexander von Keller
Bürgermeister in Solingen
(1843-1858)

Immerhin wurden die Mädchen nicht gezwungen, sich bei der Arbeit durch verhüllende Stofffülle zusätzlichen Risiken und Gefahren aussetzen.

In der MBGV 5/1898 fand ich zufällig diese Notiz über eine erstaunliche Beobachtung vor dem Hintergrund dieser Polizei-Verordnung:

"Weibliche Schleifer im Solinger Industriebezirk.

Die letzthin erfolgte Aufhebung der Polizei-Verordnung aus den Jahren 1856 und 1858, welche die Kleidung der in Schleifereien thätigen Arbeiterinnen betrafen, hat vielfach den Glauben wachgerufen, daß sich weibliche Personen mit Schleifen heutzutage gar nicht mehr befaßten. Dies kommt aber, wie mir von verschiedenen Seiten mitgeteilt wird, immer noch vor. Sowohl am Clauberger Bach wie in der Gegend von Vockert und Platzhof sind weibliche Schleifer in Schleifhosen vor einiger Zeit von Vorübergehenden gesehen worden."

[Weyersberg MBGV 5/1898 S. 121]


Schleiferin  
Sittengefährdende Bekleidung?
Anna Wirtz, Tochter eines Ittertaler Kottenbesitzers,
hatte damit anno 1900 wahrscheinlich keine Probleme mehr
- zumal die Verordnung inzwischen aufgehoben war.

Bild-Quelle:
Stadtarchiv Solingen, Detail
 
Schleiferin  
1962 arbeitete Schleiferin Elfriede B. im Untenrüdener Kotten.

Bild-Quelle:
Stadtarchiv Solingen


Quellen:
  • Frh. v. Hauer (1832)
  • Horstmann (1971)
  • Lunkenheimer (1990)
  • Niederhagen (1994)
  • Rosenthal (1967)
  • Rosenthal Bd. 1 (1973)
  • Spiritus (1923) / Stremmel (1991)
  • Stadt Solingen (Hrsg.): solingen aktuell, April 2004
  • Stoppert (1980)
  • Thiemler (1991)
  • Weyersberg, MBGV 6/1898, S. 146 f


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