www . ZeitSpurenSuche . de |
Zurück / Gliederung
Vereine für Mäßigung und EnthaltsamkeitDie sozialen Folgen des übermäßigen Trinkens müssen so evident geworden sein, dass verantwortungsbewusste Bürger in Solingen wie auch anderswo dem nicht tatenlos zusehen wollten und einen Mäßigkeitsverein gründeten:
"19. Januar 1839.
Der Mäßigkeitsverein für Solingen und Umgegend hat sich hier seit einigen Monaten gebildet, der es sich zum Zweck gesetzt hat, so viel in seinen Kräften steht, dahin zu wirken, daß das Leib und Seele verwüstende Laster der Trunksucht in hiesiger Gegend abnehme und endlich ganz aufhöre. Daß dieser Verein nur langsam anwächst und seine Mitglieder noch nicht zahlreicher geworden sind, daß er sogar offenen Widerspruch erfährt, befremdet uns nicht. Denn das Gute gedeiht selten schnell und noch weit seltener ohne Kampf und Widerspruch.
|
|
|
Es fällt schwer, über die bildhaften Formulierungen nicht zu schmunzeln, wenn auch das Anliegen sehr ernst war.
|
Elberfelder Kreisblatt No. 111 vom 18. September 1845 (Gratis-Beilage der Elberfelder Zeitung)
"Es ist Erfahrungssache, daß in Fabrik-Gegenden [...] sich am meisten ausschweifendes und sittenloses Leben findet. [...] Nun giebts aber schwerlich einen größeren Verführer der Menschen, als der Branntwein; denn Tausende überliefern sich ihm mit Seele, Leib, Gut und Leben.
|
Der Enthaltsamkeitsverein war aus dem dortigen "Lesekreis" hervorgegangen. Sechs der Mitglieder, "die es aus Erfahrung wußten, was der Schnapps ihnen, ihren Familien und ihren Mitmenschen gethan", waren dort durch verschiedene Berichte und Schriften über die Gefahren des Alkoholkonsums zur Vereinsgründung angeregt worden.
"Es läßt sich mit Gewißheit behaupten, daß die Consumtion an gebrannten Wassern hier in unserm Bezirk kaum 1/20 der früheren beträgt. [...] Rühmend muß es anerkannt werden, daß ein hiesiger Fabrikant, der viele Arbeiter beschäftigt, sich nach den Statuten unseres Enthaltsamkeitsvereins richtet, obgleich er noch nicht dem Verein beigetreten ist. In seine Werkstätten darf kein Tropfen Branntwein gebracht werden.
|
SKIB vom 4. Februar 1846: "Künftigen Sonntag-Nachmittag, den 8. Febr., feiert der Enthaltsamkeits-Verein zu Schrodtberg sein erstes Stiftungsfest, wozu Freunde der Enthaltsamkeitssache hiermit freundlichst eingeladen werden. - Der Vorstand." |
Solinger Kreis-Intelligenzblatt vom 5. August 1846
Aufruf!
Keinen Branntwein mehr! Branntwein weg!
Namens des provisorischen Comitées:
Küppers. |
Das Problem war also längst öffentlich gemacht, und gut gemeinte Initiativen zu seiner Lösung gab es auch. Diejenigen, die es anging, wurden damit aber kaum erreicht. Gelöst wurde das Problem bis heute nicht, ganz im Gegenteil. Und so gibt es immer noch gut gemeinte Initiativen, inzwischen sogar auf europäischer Ebene. Im Europa-Magazin Nr. 044 11/2006 verkündete die Bundesregierung:
|
Lohn oder Schnaps
Die Botschaften der Enthaltsamkeitsvereine werden wenig verbessert haben an der Situation der Arbeiterfrauen, die am Tag der Lohnzahlung am Fabriktor auf ihre Männer warteten: Sie wollten wenigstens einen Teil des ausgezahlten Bargeldes vor dem Wirtshaus retten, damit die Familie zu essen hatte - wenn es denn überhaupt Bargeld gab und nicht nur alter "Mukkefuck" in der Tüte war.
|
Peter Knecht (1798-1852) |
|
Dass diese schon lange verbotene, aber dennoch praktizierte Unsitte - die man in der Tat auch Betrug nennen kann - letztendlich abgeschafft wurde, geht auch auf das Engagement des prominenten Solinger Kaufmanns Peter Knecht zurück.
|
Elberfelder Kreisblatt No. 43 vom 10. April 1845 und No. 47 vom 19. April 1845
[3.] "Es ist eine traurige Wahrheit, daß, seit das abscheuliche Waarenzahlen, mit der Verarmung der Arbeiter, Hand in Hand gehend, auf eine entsetzlich schnelle Weise zugenommen hat. [...] Wohl die Hälfte der Mitglieder des Fabrikgerichts sind Fabrikanten, welche Kram- und Victualien-Laden für die Arbeiter halten; - mehrere derselben verkaufen sogar Branntwein, oder halten öffentliche Branntweinschenken. -"
[11.] "Ein weit größeres Unglück für unsere Fabriken, als die verrufenen Waarenzahler sind diejenigen Fabrikanten und Kaufleute, welche den Arbeitern im Laden den Branntwein in Kännchen schenken [= ausschenken], oder gar eine Branntwein-Schankwirthschaft halten. -
Ein bekannter armer Arbeiter holt hier täglich bei Hrn. X.X. 2 Pack Scheeren zum Klarmachen (das Poliren der Augen an den Scheeren) und liefert einen Pack derselben vom vorigen Tage fertig, - bei welcher Gelegenheit er jedesmal 2 Gläser Branntwein trinkt. - Der Arbeitslohn der 12 Dzd. Scheeren, zu 1 Sgr. 4 Pf., beträgt 16 Sgr., die 12 Gläser Branntwein, à 7 Pf., kosten 7 Sgr., und für die übrig bleibenden 9 Sgr. muß der Mann noch Waaren nehmen, wenn sich die Arbeit aneinander halten soll. -
|
Behördliche VorladungIn seinem Aufsatz über die Solinger Trunkenbolde (1970) zitiert Herbert Weber das kleinlaute Bekenntnis eines Gewohnheitstrinkers und Familienvaters, der ins Rathaus bestellt worden war, weil dessen bedauernswerte Ehefrau sich im Jahr 1858 hilfesuchend an den Solinger Bürgermeister gewandt hatte.
»... Ich heiße wie angegeben, bin 39 Jahre alt, wohnhaft zu Mangenberg, treibe das Kleidermacher-Handwerk, habe eine Frau und sechs Kinder von 15, 14, 11, 8, 5, 3 Jahre alt.
|
Kein Mangel an Wirtshäusern in der Solinger Altstadt
In einem heimatkundlichen Solinger Zeitungsartikel wird die Ecke der früheren Brüderstraße (seit 1929: Mummstraße) und Kölner Straße beschrieben als "eine einigermaßen feuchte Gegend, so recht für 'Sumpfhühner' geeignet, öffneten sich doch hier auf engstem Raum einladend die Türen von nicht weniger als fünf Wirtschaften und einer Brauerei!
|
|
|
An der anderen Ecke der Brüderstraße, der Bauermann'schen Wirtschaft gegenüber, war noch die Vetter'sche Bierbrauerei in Betrieb, die aber bald darauf stillgelegt wurde. Für dustige Kehlen gab es da keine Not, um so weniger, als einige Häuser weiter an derselben Seite der Brüderstraße die Bierbrauerei von Eduard Sonnenschein beim Würzekochen ihre süßen Malzdüfte kräftig in die Gegend hinaussandte, bis sie nach einigen Jahren in die Brauerei Carl Beckmann aufging, und damit die Brüderstraße fast 'alkoholfrei' machte." |
Unglücksfälle und Fabrik-Ordnungen
Mitte des 19. Jh. entstanden die ersten Dampfschleifereien im Solinger Industriebezirk. Wie in den Wasserkotten, so kam es auch hier gelegentlich zu Arbeitsunfällen und Unglücken.
Empört klingt folgende Schilderung des Schleifereibesitzers Carl Friedrich Ern im Jahr 1887 gegenüber dem Bürgermeister von Wald (Solingen):
"Ich behaupte, daß seit mehreren Jahren meine alten Meister im Durchschnitt täglich kaum sechs Arbeitsstunden gearbeitet haben. Ein einzelner Meister ist schon mehrere aufeinanderfolgende Arbeitstage wohl in der Fabrik gewesen, aber nicht auf seiner Arbeitsstelle angelangt, weil er mit einigen Genossen eine Trinkrunde bildete, welche tagelang in Permanenz blieb. Andere waren tagelang betrunken. Es wurden bedeutende Mengen an Bier und Schnaps täglich verzehrt, so daß von anderen Arbeitern, den Nichtschleifern oft ausgesprochen wurde, es könnten verschiedene kleine Geschäfte von dem Verdienst leben... Das Frühstück der Schleifer bestand häufig aus Bouillon und Beefsteak, welches sie auf der Arbeitsstelle bereiteten. Solche Verhältnisse zu ändern ist mir durch meine Ermahnungen allein unmöglich gewesen."
|
KurenVermutlich machte sich das Alkoholproblem auch in den betuchteren Kreisen bemerkbar. Warum sonst hätte eine solche Anzeige im Intelligenzblatt erscheinen sollen? Wer es sich leisten konnte, schickte den kranken Angehörigen vielleicht zum garantierten Entzug in ein Schweizer Sanatorium: |
Solinger Kreis-Intelligenzblatt vom 13. Juni 1885
"Trunksucht auch ohne Wissen, beseitigt nach 10jähriger Praxis reell u. gewissenhaft unter Garantie d. Erfinder d. Kuren, Th. Konetzky, Spezialist f. Trunksuchtleidende in Binningen, Basel, Schweiz. Eidlich-amtlich bestätigte Atteste Geheilter beweisen die Wiederkehr d. häuslichen Friedens u. ehelich. Glücks unzähliger Familien. Atteste gratis. Nachahmer beachte man nicht." |
Klotschgaate
"En der Klotschgaate" war eine alte Solinger Ortsbezeichnung, ein Waldpfad, der parallel zum damaligen Verschönerungsweg (Botanischer Garten am alten Standort am Kannenhof) nach Altenbau führte und zum Thema passt.
|
20. JahrhundertWeitere Vereine
1902 rief in Solingen Pfarrer Wilhelm Nitsch einen Ortsverein der 1877 in Deutschland gegen Trunksucht gegründeten evangelische Vereinigung "Blaues Kreuz" ins Leben, zusammen mit Rektor Robert Horath, den Brüdern Heinrich und Fritz Sträter sowie Berta Tesche.
|
Inspektionen und Polizeiakten
Diejenigen, um die es ging, kümmerten die Bemühungen wenig, wie weitere Beispiele zeigen:
|
2012 Gebäude der ehemaligen Arbeitsanstalt Brauweiler |
|
2012 Frauenhaus der ehemaligen Arbeitsanstalt Brauweiler |
Abschließend noch eine Bemerkung von Cäcilie Godek zum Thema Frauenarbeit aus der Zeit um 1925. Als Vorteil der Beschäftigung von Frauen führt sie an, es falle "... zu ihren Gunsten in die Wagschale, daß sie nicht oder fast garnicht dem Nikotin- und Alkoholgenuß huldigen, wie dies bei dem männlichen Geschlecht leider noch immer in so hohem Maße der Fall ist." |
Die Karikaturen in diesem Kapitel stammen von Wilhelm Busch. |
|
Quellen:
|