"Die vorindustrielle Geschichte der Siedlungen des Bergischen Landes ist mangels Urkunden und mangels archäologischer Grabungsergebnisse leider noch zu unklar. Noch kann nicht als gesichert gelten, ob das etwa 1000 Jahre alte, im Posener Museum aufbewahrte Schwert mit der Inschrift 'SIMENHUIS' tatsächlich aus dem Oberhaaner Hof Simonshaus stammt, der schon in Urkunden des Mittelalters erwähnt wird [14] [15].
Aber die Stützpunkte der Kirche und der Landesherren dürften hinreichend bekannt sein. Für den Haaner Raum bieten sich zur Untersuchung wohl nur kirchliche Institutionen an, zumal das Erzstift Kur-Köln für Haan sogar noch mindestens bis etwa 1450 gleichzeitig alleiniger Landesherr war [15].
Einflußträger für Köln waren in der näheren Umgebung Haans im 10. Jahrhundert nur Gerresheim und Essen mit ihren Kanonissen-Stiften und Kaiserswerth. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß diesen Stiften eine wesentliche Rolle bei der Missionierung und Christianisierung bestimmter Gebiete ihres Einflußbereiches zugeteilt war. Bei der Überprüfung der Verhältnisse der Stifte zu Haan sind nur nach Gerresheim wesentliche Verbindungen herstellbar.
Ausgerechnet Lacomblet beging 1866 den Flüchtigkeitsfehler, die bedeutende Stadt Hagen in Westfalen mit unserem Haan zu verwechseln [16].
Er veröffentlichte ein »Register der Wachszinsigen des Stifts Gerresheim in verschiedenen Kirchspielen des Bergischen Landes und dem Märkischen Kirchspiele Hagen« aus der Zeit um 1312. In dieser Wachszinsigenliste werden die Orte Lüttringhausen, Remscheid, Cronenberg, Elberfeld, Sonnborn, Wald, Solingen, Hagen, Erkrath, Mettmann, Gerresheim und Hilden aufgeführt.
Erst wenn man unter Hagen die Hofbezeichnungen 'obere Heide' (upper Heyden), 'im Dorf' (in villa), 'Schasiepen' (Scaensipe), 'Champanien' (Campanarius) und 'Krutscheidt' (Crutschede) liest, dann erfährt man, daß nur Haan, aber nicht Hagen in Westfalen gemeint sein kann. Ähnliche Urkunden aus den Jahren 1217 und 1218 sind in Verbindung mit Besitzwechseln oder Steuerlisten bekannt. Genannt werden die Höfe Wibbelrath und Krutscheidt [17]. Die Lesung Haan für Hagen in Westfalen ist natürlich schon wegen der geographischen Aufzählungsfolge eindeutig.
Der langfristig nachwirkende Irrtum Lacomblets hatte insofern bis in die jüngst vergangene Zeit hineinreichende Folgen, als jede Verbindung zwischen Haan und Gerresheim unbeachtet blieb [18].
Auf einen früher wirksam gewesenen Einfluß Gerresheims auf Haan deutet auch eine andere Urkunde.
Zum 'Liber Valoris' von 1308, eine Sondersteuerliste der Kirchen der Erzdiözese Köln, die nach Untersuchungen von Friedrich Wilhelm Oediger auf ältere Unterlagen aus der Zeit um 1100 zurückgeht, sagt der Herausgeber: »Es gibt Zuordnungen nach der Lage oder der gleichen Taxe. Die jüngeren Kirchen stehen durchweg am Ende der Liste, die Kapellen auch hinter den Mutterkirchen, aber alles ohne feste Regel.«
In der Tabelle IX des Dekanates Neuß steht Hilden an 42., danach Richrath an 43. Stelle. Es folgen Monheim, Himmelgeist und Unterrath.
An 47. Stelle dann steht Gerresheim, an 48. Gruiten als Grutene capella, und an 49. Stelle Haan, bezeichnet als Hagen capella, immerhin noch vor 11 weiteren Kirchen und Kapellen bis zum Ende der Liste [19].
Nach den bisher festzustellenden, mindest latenten Verbindungen Haans zu Gerresheim, bot sich eine Untersuchung der Gerresheimer Urkunden an. In mehreren Urkunden [20]) aus der Zeit etwa des Haaner Kirchenbaus fand ich nun 3 Geschwister, die offenbar das Stift Gerresheim und seine Aufgabe administrativ und wirtschaftlich verwaltet und geführt hatten:
ADALBURG und ihre Schwester
Äbtissin LANTSWIND und ihr Bruder, der
Schutzvogt EVERWIN
Diese 3 Anfangsbuchstaben ergeben die Buchstabenfolge 'ALE' im vermeintlichen Alegerus. Kein Wunder, daß die nächsten 3 Buchstaben 'GER' auf Gerresheim (Gerezheim, Gerichesheim) weisen. Mit anderen Worten, wir müssen den Alegerus heute wie folgt interpretieren:
'ADALBURG, LANTSWIND und EVERWIN von GERRESHEIM'
Adalburga, Lantwinda und Everwin, diese einflußreiche und bekannte Geschwistergruppe aus dem Stift Gerresheim, hatte es nach damaligem Ermessen kaum nötig, mehr Worte auf den Inschriftenstein der alten Haaner Kirche setzen zu lassen. Sie mußten aus der Sicht ihrer Welt heraus annehmen, daß der Sinn der Kürzel ihrer Inschrift als Selbstverständlichkeit nie vergessen würde.
Vielleicht wäre diese Erwartung auch eingetroffen, wenn der Aufenthalt ihrer Institutionen in Haan längere Zeit gedauert hätte. Die Haaner Bauern und Handwerker in der Folgezeit aber hatten andere Sorgen. Die Mühsal der Tagesarbeit und der unsicheren Zeitläufe werden ihre Aufmerksamkeit anderweitig in Anspruch genommen haben. So kam es, daß bis in unsere Zeit noch nicht einmal die Spur einer Überlieferung oder einer Sage erhalten blieb, weder über den Gerresheimer Ursprung, noch über einen anderen.
Hugo Weidenhaupt, der Erforscher der Gerresheimer Geschichte, schrieb 1970 [21]:
»Zu den ältesten Kanonissenstiften im Bereich der alten Erzdiözese Köln gehört ... auch das Stift Gerresheim. Dessen Existenz ist für das Jahr 905/906 eindeutig urkundlich erwiesen. Sein Gründungsjahr ist nicht überliefert, es kann aber mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß Gerresheim als hochadeliges Stift in der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts von dem fränkischen Adeligen Gerrich gegründet und auf der Kölner Synode im September 870 bestätigt worden ist.
... Auf einem ihrer Züge, von denen die zeitgenössischen Chronisten und Annalen immer wieder berichten, haben [die Ungarn], wahrscheinlich im Jahre 919, ... das Stift Gerresheim überfallen. Die Gebäude des Stiftes einschließlich der Wohngebäude fielen den Flammen zum Opfer, die männlichen Bewohner wurden erschlagen oder als Geiseln mitgeführt, der gesamte bewegliche Besitz geraubt. Nur die Äbtissin Lantswind konnte mit den Kanonissen und unter Mitnahme der Reliquien des Stiftspatrons, des heiligen Hippolyt, nach Köln fliehen. ... Erzbischof Hermann I. wies ihnen 922 das seit dem Normannen-Überfall zerstört vor den Toren der Stadt liegende Stift St. Ursula als neuen Sitz zu.«
Soweit Hugo Weidenhaupt. Was er nun weiter berichtet, ist in der Schlußfolgerung gelegentlich unsicher, denn irgendetwas fehlt:
»Ein Priester und einige wenige Stiftsdamen kehrten jedoch sofort nach dem Abzug der Ungarn nach Gerresheim zurück. Vielleicht standen noch einige Zeit beide Häuser unter einer Leitung, aber schon relativ bald, um die Mitte des 10. Jahrhunderts, war Gerresheim wieder ein selbständiges Institut. Während St. Ursula infolge des mächtigen Schutzes durch den Erzbischof schnell aufblühte, spielte sich das Leben in Gerresheim vorerst in sehr bescheidenem Rahmen ab ... Etwa ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis in Gerresheim wieder Kirche und Stiftsgebäude erbaut waren. Sie wurden 970 durch den Erzbischof Gero von Köln eingeweiht.«
Mit unserem Wissen von heute können wir die Frage stellen, ob nicht etwa die Gerresheimer Kanonissen in der Zwischenzeit in Haan residiert haben. Vielleicht hat man sich, da die Ungarngefahr bis zur Schlacht auf dem Lechfelde 955 noch nicht vorüber war, in den Schutz der bergigen Wälder und Sumpfniederungen Haans geflüchtet, zumal hier ein Teil des ländlichen Besitzes der Gerresheimer war. Hier war man, im Gegensatz zu Köln, inmitten von Menschen, die sich der Gerresheimer Kirche durch Wachszinsigkeit freiwillig Untertan gemacht hatten.
Vom Leben der Stiftsdamen schreibt Binterim 1826: [22]
»Die Stiftsdamen oder Canonessen verdienen eine besondere Aufmerksamkeit, weil sie in mehreren Punkten von den Klosterfrauen verschieden sind.
Sie legen 1. keine Gelübde ab, sondern können zu jeder Zeit austreten und heirathen;
2. sie leben zwar gemeinschaftlich, aber jede hat ihr eigenes Haus, ihre besondere Dienerschaft und ihre Einkünfte;
3. sind sie nur zum Chor verbunden, weswegen sie auch ihre Präbende [ihre Leibrente] ziehen;
4. können sie außer der Zeit, wo sie dem Chor beiwohnen, eine ihnen beliebige Kleidung tragen. Sie werden daher auch Canonissae saeculares, weltliche Stiftsdamen genannt.«
Vom frühen Mittelalter an bis 1585 nahm das Damenstift Gerresheim nur Mitglieder des hohen Adels auf [23]. Das waren im wesentlichen demnach die deutschen Fürstenfamilien, die ihre Töchter oder Witwen in die wohlabgeschiedene Sicherheit der Siedlung Haan gegeben haben müssen: Kurfürsten, Herzöge, Grafen, Erzbischöfe, Bischöfe, und, wer weiß, vielleicht auch Könige.
Urkunden über die Größenordnung des Klosters Gerresheim sind relativ jung. Im Jahre 1208 hatte Gerresheim 26 Damen und 4 Kanoniker im Stift [23]. Diese recht kleine Gruppe gibt einen Hinweis darauf, daß es sich bei den wenigen Hochadelstiften jeweils um recht exklusive Kreise gehandelt haben muß. Da die Gerresheimer Stiftsdamen Haan etwa nach der Mitte des 10. Jahrhunderts wieder verlassen hatten, sei es durch Aufgeben dieses Standortes oder durch Tod, bestand die Möglichkeit zu einem Wechsel der Mutterkirche.
Friedrich Wilhelm Oediger schreibt 1972: »Der Pfarrer von Richrath weist noch im 16. Jahrhundert die Pfarrer zu Hilden, Haan, Elberfeld und Cronenberg ein.« [24] Es muß sogar ein Wechsel des Patroziniums stattgefunden haben, denn im gesamten folgenden Mittelalter waren nicht mehr Chrysantus und Daria, sondern der heilige Kilian Patron der Haaner Kirche. Heinrich Strangmeier [25] verdanken wir seit 1951 eine detaillierte Dokumentation über die Haaner Patrozinien. Auch wurde danach noch weiteres Urkundenmaterial über diesen Wechsel veröffentlicht [26].
Die adeligen Geschwister bauten hier in Haan eine Art Stiftskirche. Nur so ist der Grundriß der Kirche, der bisher in den Aufriß der vergleichbaren Kirchen der Nachbarschaft nicht einzuordnen war, zu erklären. Das Gutachten des leitenden Archäologen, des Direktors der Außenstelle Xanten im Rheinischen Landesmuseum Bonn, Dr. Dirk Soechting, ist noch in der Bearbeitung, zum Teil auch aus eben diesen genannten Problemen, wie mir mitgeteilt wurde.
Aber beim derzeitigen Stand der Untersuchungen kann man wahrscheinlich - natürlich unter Vorbehalt - schon folgendes sagen: Vermutete man ursprünglich einen romanischen Kirchenbau, der aus etwa 3 bis 4 Baustadien mindestens bestand (nämlich Urkirche, d.h. Chor mit Schiff, dann Turm, dann Seitenschiff und zuletzt Sakristei), so muß man wohl heute nur 2 Baustadien unterscheiden. Im 10. Jahrhundert bereits wurde möglicherweise die gesamte Kirche erbaut, mit einem Seitenschiff zur Absonderung der Kanonissen (diese Absonderung war im Mittelalter allgemein üblich), vermutlich auch mit Turm. Erst später entstand als äußerer Anbau eine gotische Sakristei.
Dabei waren die räumlichen Abmessungen für einen relativ kleinen Ort wie Haan überdimensional. Die in unserer Nachbarschaft archäologisch ergrabenen Kirchen, deren Fundamente ebenfalls etwa Mitte 10. Jahrhundert datiert werden, standen in der Größenordnung zur Haaner Kirche im folgenden Verhältnis:
Elberfeld, St. Laurentius, ergraben von Dr. Hermann Hinz, 1953 [27], Grundfläche etwa 108 m2.
Solingen, St. Clemens, ebenfalls Dr. Hinz 1957 [27], Grundfläche etwa 168 m2.
Hilden, St. Jakob, ergraben von Dr. Dr. Günter Binding 1965 [27], Grundfläche nur 66 m2 (!).
Haan, St. Chrysantus und Daria, ergraben 1971 bis 1973, Grundfläche 212 m2
Allein der Vergleich der Mauerdicken der Chöre ist aufschlußreich:
Hilden 50 bis 70 cm dick, Haan dagegen 90 cm bis 1,20 Meter!
Wir können jetzt wohl davon ausgehen, daß die Geschwister Adalburga, Lantswinda und Ewerwin recht begütert waren. Aber eine noch wichtigere lokalhistorische Erkenntnis ist, daß Haan wohl niemals eine Nebenstelle von Hilden gewesen sein kann, wie bisher m.E. in vielen geschichtlichen Abhandlungen kritiklos dargestellt wurde."
So steht es auch 1900 bei Anton Schneider und 1928 bei August Lomberg.
"Ursache für diese Fehleinschätzung war eine heute unbegreifliche Behauptung Lacomblets, der 1854 [28] leichtfertig schrieb: »Einer der 12 Tafelhöfe, welche Cölns Bischöfe aus vorurkundlicher Zeit besaßen, war Hilden, wovon Haan ein Abspliß ist... Eine ältere Urkunde für das frühe Dasein der Kirche zu Hilden ist eine noch wohl erhaltene Inschrift an der Kirche zu Haan, welche als Filiale von jener ausgegangen.«
Für diese Behauptung gibt es bis heute nicht einen urkundlichen Beweis. Lacomblet ging damit sogar so weit, aus dem hohen Alter von Haan auf ein noch höheres Alter von Hilden zu schließen. Wie immer bei Lacomblet haben seine gelegentlichen Fehleinschätzungen, besonders Haan war davon betroffen, den Nachteil, daß sie im Laufe der letzten 120 Jahre gültig blieben.
Der Gründungsstein der Haaner Kirche enthält zwar nach wie vor keine Ortsangabe, denn Haan wird nicht erwähnt. Aber nicht nur wegen der aufgefundenen Größenordnung der alten Kirchenfundamente, sondern vor allem wegen der freigelegten 18 Gräber mit Schläfenringen aus Bronze im März 1972, die in einem Feld von 4 Meter bis 20 Meter parallel liegend von der Südmauer des Kirchenschiffs entfernt lagen, ist eine Zuordnung zur Haaner Kirche eindeutig. Die Gräber, die in einer Tiefe von ca. 1,30 Meter unter damaligem Niveau lagen, wurden zudem nicht voll ausgewertet.
Da die Baggerarbeiten überwiegend nicht beobachtet werden konnten, ist sogar noch mit einer angemessen hohen Dunkelziffer zu rechnen. Wir müssen wohl annehmen, daß ein Teil der Stifts-Damen sich neben ihrer Haaner Kirche bestatten ließ. Die Altersbestimmung der Gräber erfolgte im Laufe der Jahre 1972 und 1973 im Institut für Erd- und Raumphysik durch Professor Rainer Berger in der Universität von Los Angeles. Untersucht wurden mittels Radiokarbon-Methode 3 verschiedene Stoffproben aus Leinen, die die aufgefundenen Schädel umhüllt hatten, und ebenfalls untersucht wurden 3 verschiedene Skelett-Teile. Das Ergebnis war: Älter als 1000 Jahre, also etwa aus der Zeit um 950.
Daß Haan gleichwohl noch eine ältere Siedlung gewesen sein muß, ist sehr wahrscheinlich. Abgesehen davon, daß größere Kirchen wohl selten auf der grünen Wiese erbaut wurden, beweist uns ein im Dezember 1973 unter dem alten Kirchenfundament aufgefundenes und voll ausgemauertes Kopfnischengrab, daß der Kirchhof eine bereits früher benutzte Grabstätte war. Die Untersuchungen dazu sind noch nicht abgeschlossen.
Mit der Feststellung, daß Adalburga, Lantswinda und Ewerwin von Gerresheim die Erbauer der Haaner Kirche sein mußten, wollte ich mich alleine nicht zufriedengeben. Der letzte Teil der Haaner Kircheninschrift war wieder relativ klar und paßte auch zum Plural des Personenkreises:
EREXITI gibt EREXISTIS, also heißt es interpretiert »Ihr habt diese Kirche erbaut«. Was war aber mit den anderen Buchstaben zwischen Anfang und Ende dieses Satzes? Das HV mit dem Kürzungsstrich hatte Helmut Dahm [29] richtig geklärt mit Priester oder Geistlicher, also HONORABILI oder HONESTI oder HUMILI VIRI, in unserem Falle also sinngemäß besser übersetzt mit 'Würdenträger'.
Aufklärung über das folgende Wort MIIS fand ich in anderen Urkunden Wichfrieds aus der vergleichbaren Zeit [30], die im Zusammenhang mit Klöstern und Kirchen verfaßt wurden: Danach kann man MONASTERII SANCTI in 'des frommen Klosters' auflösen, was ja auch nahe liegt.
Das nun folgende Zeichen ist nach Binterim [31] ein klares Satzzeichen, einer arabischen 6 ähnelnd, also nur ein Trennungszeichen. Dieses Satzzeichen hat bisher bei allen Interpreten heillose Verwirrung gestiftet, weil man es mit Gewalt als Buchstaben ansah, anfänglich auch bei mir. Dabei hat gerade dieser Irrtum alle abgelenkt von der köstlichen Perle, die direkt dahinter steht, nämlich die 3 Buchstaben IOC. In den erwähnten alten Urkunden sind meist mehrere Jahreszahlen angegeben, z.B. das Jahr der Regierung des Königs, das Jahr der Geburt Christi, und dann das Jahr der Indiktion.
Die Indiktionen sind ein altes römisches Zeitmaß für einen 15-Jahre-Rhythmus; heute sind sie vergessen. Aber alle Urkunden zu Beginn des 10. Jahrhunderts geben noch die Indiktion an, z.B. VIIII. indictione, Indictione secunda oder VIto. Indictione. Und dann, in einer Urkunde Wichfrieds von 948: Octavo Indictione. Man darf es auch umgekehrt schreiben: Dann heißt es 'INDICTIONE OCTAVO', nämlich unser IOC!
»Du liebe Güte« dachte ich, »warum hat denn das bisher kein Mensch bemerkt?« Unsere Jahreszahl aber ist nicht 948, sondern früher, denn wenn eine Indiktion im Regierungszeitraum Gelegenheit bekommt, sich zu wiederholen, dann wird grundsätzlich immer noch eine zweite Jahreszahl anderer Zeitrechnung hinzugegeben. Nach Binterim [32] errechnet sich die Indiktion wie folgt:
(Angenommene Jahreszahl n. Chr.) + 3 [33]
geteilt durch 15
Der Rest der Zähler von Fünfzehnteln ergibt die Indiction. Im umgekehrten Verfahren ergibt sich danach für die Gründung der Haaner Kirche die Jahreszahl 935, da Wichfried etwa von 923 bis 953 Erzbischof war [34].
Nun endlich klärt sich auf, warum der Schreiber des Haaner Kirchen-Dokuments zum 4. August die Jahreszahl im oberen Teil weggelassen hatte, worüber sich alle möglichen Leute einschließlich derer, die von Berufs wegen lateinische alte Inschriften zu lesen haben, bisher ereiferten.
Trotz einiger gegenteiliger Ansichten sind wir dem Verfasser der alten Haaner Kircheninschrift wohl die Feststellung schuldig, daß diese Inschrift stilistisch, sachlich und orthographisch nach den Regeln seiner Zeit eine erstklassige Arbeit gewesen ist. Wie könnte es auch anders sein? Die Spitzen der Gelehrten Europas saßen damals in Köln, und Erzbischof Wichfried, der ein Jahr später Otto den Großen zum König krönen sollte, dürfte keine zweite Garnitur nach Haan geschickt haben.
Zusammenfassend können wir damit endlich feststellen, daß für Haan nun eine früheste chronologische Ersterwähnung vor der Jahrtausendwende existiert: 935, das letzte Regierungsjahr König Heinrich I., des Städtegründers. Unsere Städte in Deutschland pflegen von solch einer Jahreszahl das Datum ihrer Begründung abzuleiten. Diese entscheidenden letzten Zeilen in der alten Haaner Kirchen-Inschrift lauten, ins Deutsche sinngemäß übersetzt, nach meiner Meinung:
»Adalburg, Lantswind und Ewerwin von Gerresheim,
Würdenträger des frommen Klosters,
im Jahr 935 habt Ihr diese Kirche erbaut«"
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