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Was der Haaner Lokalhistoriker Harro Vollmar anlässlich der Ausschachtungsarbeiten für den Hallenbadbau in Haan herausfand, unterstreicht die historische Bedeutung der alten Kirche, brachte manche geschichtliche Rätsel einer Lösung näher und relativiert einige frühere Erkenntnisse. Der sehr lesenswerte Text wurde 1977 in der Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins veröffentlicht. Darin erläutert Vollmar unter Berücksichtigung der herangezogenen Literatur, wie er zu seinen Ergebnissen und Schlussfolgerungen gekommen ist warum dies anderen - auch professionellen Forschern - nicht gelungen war.


Bemerkungen zur mittelalterlichen Geschichte
der Siedlung Haan

Von Harro Vollmar (1974)
(Hier im Wortlaut wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung von
Frau Edith Gerda Muthmann (2006)

Bei den Ausschachtungsarbeiten für den Hallenbadbau in Haan, die fast an der gleichen Stelle stattfanden, wo die älteste Haaner Kirche, wahrscheinlich im 10. Jahrhdt., errichtet worden sein soll, war eine besondere Gelegenheit zu praktischer Forschungsarbeit. Die neuesten Ergebnisse dieser Forschungen gaben mir Veranlassung, sie in einem kurzen Referat zusammenzufassen.

Einziger Zeuge einer frühmittelalterlichen Geschichte war offenbar ein alter Gründungsstein, der über einen Kirchenbau berichtete, der zu Beginn des 10. Jahrhunderts irgendwo durchgeführt worden sein muß. Ich zitiere hierzu die Meinung einiger einschlägig interessierten Fachleute:

Der Wuppertaler Heimatforscher und ehemalige Hildener Stadtarchivar Willi Herwig schrieb 1965 [1]:

»In der evangelischen Kirche zu Haan ist ein Stein eingemauert, dessen Inschrift besagt, daß die Kirche, aus welcher der Stein stammt, in den Jahren 924 bis 952 durch den Kölner Erzbischof Wichfried geweiht worden ist.

Dr. Dittmaier [2] bezeichnet Haan, »das bereits im 10. Jahrhundert bestand und somit der älteste bergische Hagenort ist«, als Ausnahme von der vermutlich jungen Schicht der bestimmungswortlosen Hagennamen im Bergischen. Er übersieht dabei, daß die Inschrift überhaupt keinen Ortsnamen enthält und deshalb weder als Zeugnis für das Vorhandensein einer Kirche des 10. Jahrhunderts in Haan, noch als frühester Beleg für den Ortsnamen Hagen im Bergischen dienen kann. Solange also nicht durch Ausgrabungen auf dem heute als Marktplatz benutzten 'Alten Kirchplatz' in Haan einwandfrei bewiesen ist, daß das Bauwerk des 10. Jahrhunderts ebenfalls dort gestanden hat, läßt sich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß sein Standort an einer anderen Stelle zu suchen ist. die auch außerhalb der heutigen Haaner Grenzen liegen kann.«

  Als Marktplatz wird und wurde der alte Kirchplatz nicht benutzt; hier dürfte eine Verwechslung mit dem Alten Markt vorliegen.


Der Hildener Heimatforscher Heinrich Strangmeier schrieb schon 1951 [3]:

»Wir können allerdings nicht mit Bestimmtheit sagen, ob das von Wichfried geweihte Gotteshaus mit dem in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts niedergelegten Bauwerk identisch ist; denn ebenso wie 1863/64 der Inschriftenstein von der alten Kirche übernommen und in die Sakristei der neuen eingemauert wurde, wäre es denkbar, daß der Stein aus dem Bethaus des 10. Jahrhunderts in einen späteren Neubau hinübergewandert ist. Wenn man der offenbar von stilkritischen Erwägungen bestimmten Vermutung Paul Clemens [4], daß die 1865 abgebrochene Haaner Pfarrkirche 'wohl erst im 11. Jahrhundert erbaut' worden sei, beipflichten wollte, käme man an der Annahme einer solchen Wiederverwendung des Steins nicht vorbei.«


Noch am 5. Februar 1970 schrieb mir Herr Dr. Dr. Günther Binding, damaliger Leiter der Bezirksstelle Niederrhein im Rheinischen Landesmuseum Bonn, heute Professor für Architektur am Kunsthistorischen Institut der Universität Köln: »Eine archäologische Untersuchung im Bereich der alten Kirche zu Haan ist von besonderer Bedeutung, zumal die erhaltene Inschrift einer Deutung bedarf«.


Weihestein
 
Weihestein
der alten Haaner Kirche

Foto: W. Grotenbeck, Haan
Bild-Quelle: Stadtarchiv Haan

Die alte Haaner Kircheninschrift ist in den ersten 4 Zeilen verhältnismäßig klar; sie lautet übersetzt:

          »Von dem ehrwürdigen Erzbischof Wichfried
          ist am 4. August diese Kirche eingeweiht worden
          zu Ehren der heiligen
          Märtyrer Chrysantus und Daria«.

Verwundert ist man zunächst ob der fehlenden Jahreszahl.

Günter von Roden glaubte 1951 [5] den Steinmetzen, der die Inschrift hergestellt haben muß, als nicht besonders qualifiziert zu erkennen. Von Roden schrieb: »In der 5. Zeile hat er zu Beginn sicherlich HAEC AECCLESIA (so in jener Zeit häufig für ECCLESIA) schreiben wollen und sollen. Da jedoch das erste Wort mit den gleichen Buchstaben endet, mit denen das zweite beginnt, ist ihm, der, wie gesagt, vermutlich nicht lesen konnte, der Fehler unterlaufen, »die Buchstabenfolge einmal wegzulassen.«

Tatsächlich aber hat der Steinmetz keinen Fehler verursacht, sondern diese Wortzusammenziehung entsprach der Sitte des frühen Mittelalters. Dr. Binterim schreibt dazu 1825 [6] über die Entwicklung der lateinischgotischen Schrift nach dem 5. Jahrhundert: »... die Steinhauer ... banden die Wörter zusammen, daß zuweilen der nämliche Buchstabe zweien aufeinander folgenden Wörtern angehörte, ja sie thaten dasselbige auch mit ganzen Silben.... Die Philologen ... wissen, wie viele und grobe Irrthümer durch diese Wortverbindungen sind veranlaßt worden in geschriebenen Werken, unauflösliche Knoten.«

Auf die Folgerungen aus diesem Problem werden wir noch zu sprechen kommen. Diese Interpretation von Rodens wäre auch belanglos, wenn es ihn bei der weiteren Übersetzung offenbar nicht bewogen hätte, recht frei zu übersetzen, teils in der Meinung, Fehler kompensieren zu müssen. Zugegeben, die 5. und 6. Zeile der Inschrift sind problematisch. Lateinisch könnte man sie lesen wie:

          »ALEGER HVMIIS DIOC EREXITI HOC ORATORIVM«

Der m.W. erste Geschichtsschreiber, der die Haaner Kircheninschrift beiläufig erwähnte, war der Velberter Lehrer Eduard Hölterhoff im Jahr 1841. [7] Erst danach veröffentlichte der Königlich Preußische Archivrath Dr. Theodor Josef Lacomblet 1854 eine genaue Interpretation der Inschrift, so wie er sie gelesen hatte [8], nämlich für die 5. und 6. Zeile

          »ALEGERUS HUMILIS DIACONUS EREXIT HOC ORATORIUM«
          in Deutsch etwa: »Alegerus, niedriger Diener, errichtete dieses Bethaus.«

Günter von Roden übersetzte 1951 in abgewandelter Form wie folgt: (etwa »Alegerus hat in Demut dieses errichtet, dieses Bethaus,« d.h.:)

          »Alegerus hat in Demut dieses Bethaus errichtet«.

Legte Lacomblet noch seine Übersetzung ohne Kommentar vor, so schrieb v. Roden im Detail: Zunächst glaubt er sagen zu müssen, daß Lacomblets Lesart »nicht in allen Punkten richtig ist«.

Tatsächlich, so meine ich, hat man 1854 und 1951 nach den damaligen Möglichkeiten des Wissens übersetzt und sicher muß die Heimatforschung bis heute die früheren Bearbeitungen in anerkennender Weise zur Kenntnis nehmen. Von Roden schreibt jedenfalls weiter in seinem Kommentar zur Inschrift:

»...einige Kürzungsstriche, die völlig sinnlos angebracht sind und das I am Ende der 5. Zeile, das keinerlei Sinn hat. Unklar in Lesung und Bedeutung sind die Buchstaben in der 5. Zeile, die Lacomblet mit DIOC auflöst. IOC ist zweifellos zu lesen, aber das erste ist kein D, höchstens die Andeutung eines solchen.

DIOC heißt es wohl ebenso wenig wie DIAC, das Lacomblet richtiger anzunehmen glaubt. DIOC würde als 'diocesis' aufzulösen sein, gibt aber hier keinen Sinn. DIAC müßte mit 'diaconus' erklärt werden; es gäbe zwar Sinn. Es ist aber zweifelhaft, ob der ungebildete Steinmetz, der, ein D nicht erkennend, eine ähnliche Form geschaffen hat, nun auch von dem 0 ein diesem so unähnliches A nicht hat auseinanderhalten können. Es bleibt nun doch die Möglichkeit anzunehmen, die fraglichen beiden ersten, angeblich als DI zu lesenden Buchstaben für ein mißverstandenes H zu halten, so daß sich das Wort HOC ergibt. In diesem Falle brauchte man auch das darunter stehende HOC ORATORIUM nicht als infolge mangelnder Technik der Raumgestaltung von Steinmetzen daruntergehängt aufzufassen, sondern könnte es so erklären, daß die Inschrift ursprünglich mit HOC EREXIT zu Ende war....«


Auch andere bemerkten diese erzwungen scheinenden Widersprüche in den Lesarten Lacomblets und von Rodens. Deshalb schlug Helmut Dahm 1954 [9] eine andere Interpretation vor unter der Feststellung, daß Günter von Rodens Lesart nicht viel überzeugender als die Lacomblets sei, da sie wie diese von der Überzeugung ausgehe, daß das in den übrigen Zeilen durchaus korrekte Kürzungssystem mit seinen stets am rechten Ort angebrachten Kürzungsstrichen in dieser einzigen Zeile versagen soll...

Helmut Dahm sagt weiter:

»Wenn der Strich über HV nicht sinnlos sein soll, muß an dieser Stelle gekürzt worden sein, es wäre naheliegend, hier das aus der Antike noch lebendige Ehrenprädikat honestus oder honorabilis vir, u.U. auch humilis vir zu setzen. Übrigens handelt es sich dabei um Prädikate, die im Laufe des Mittelalters mehr und mehr auf den Klerus spezialisiert wurden: honorabilis war seit der Stauferzeit das typische Prädikat der Stiftskanoniker, honestus bezeichnet neben dem gehobenen Mittelstand vor allem die Pastoren, und humilis läßt schon im frühen Mittelalter einen Geistlichen vermuten. So überrascht es nicht, daß nun mit MIIS. DIOC die Diözese angegeben wird, in der Alegerus bepfründet ist: Die Schreibweise läßt die Deutungen Münster (Mimigerne vordensis) und Minden (Mindensis) zu.

Haan lag an der Straße von Köln nach Westfalen, und die Versorgung der jüngeren Söhne des niederrheinisch bergischen Adels in den Stiften der westfälischen Diözesen ist im ganzen Mittelalter ebenso selbstverständlich gewesen, wie die in den geistlichen Korporationen der Bistümer Utrecht und Lüttich oder des Erzstiftes Köln. Das einzelne 'I' hinter EREXIT erklärt von Roden durchaus annehmbar, doch bleibt auch die Deutung 'IPSE' offen. So ergäbe sich die Lesung

»ALEGERUS H(onorabilis) - bzw. H(onestus).
H(umilis) - V(ir) MI(indens) IS - bzw. MI(migerne vordens) IS - DIOC(esis)
EREXIT I(pse) HOC ORATORIUM«

Sie weicht der krassen Regelabweichung eines als 'HUMIIS' mit 2 Kürzungsstrichen geschriebenen 'HUMILIS' aus, wie es Lacomblet und von Roden annehmen, und kommt ohne das zweifelhafte 'H' im ersten 'HOC' von Rodens ebenso aus wie ohne das stilistisch abnorme doppelte 'HOC'. Vielleicht bahnt dieser Verbesserungsversuch den Weg zu noch einleuchtenderen Deutungen.«


Soweit Helmut Dahm. In Deutsch würde seine Formulierung also lauten:

          Alegerus, ehrbarer (oder demütiger) Priester der Diözese Minden
          (oder Münster) hat selbst dieses Bethaus errichtet.«

Zweifellos hat er damit eine elegantere und sicher auch einleuchtendere Lösung gefunden als andere Interpreten vor ihm. Seine Deutung des HV in z.B. HONESTUS VIR hat vieles für sich, zumal diese Möglichkeit in einem Buch des Peter Apianus 1534 [10] als übliche Abkürzung neben HONESTA VITA ausdrücklich erwähnt wird. Nicht überzeugend finde ich die Wortauflösung nach Diözese Münster oder Minden. Und zwar deshalb:

1. Münster und Minden bestanden nach der 'Befriedung' durch Karl den Großen beide nebeneinander als Suffragan-Bistümer von Köln. 'Mindensis' oder 'Mimigerne vordensis' (auch Binterim erwähnt ähnliche Schreibweisen [11]) läßt keine Unterscheidungsmerkmale nach Münster oder Minden zu, wenn man MIIS schreibt. Wenn der Haaner Kirchenbauer schon seine Heimat-Diözese erwähnt, dann hätte es nur Sinn gehabt, wenn sie eindeutig auszumachen ist.

2. Soweit mir bekannt ist, bestanden aus dem Raum Niedersachsen nach Haan weder bedeutende wirtschaftliche noch geistliche Verflechtungen. Ob vielleicht mögliche, rein verwandtschaftliche Beziehungen ausreichen würden, hier in Haan eine relativ große Kirche zu bauen, ist reine Spekulation. Allenfalls flössen die Mittel umgekehrt, nämlich vom Erzstift Köln in das vergleichsweise unwirtliche und noch kaum christianisierte Niedersachsen.

3. Die Auflösung DIOC in DIOCESIS ist bei genauer Betrachtung der Inschrift nicht möglich. Das als 'D' benutzte Zeichen stellt ein anderes Symbol dar, es bleibt nur IOC übrig und eindeutig lesbar. Dieses verstümmelte 'D' ähnelt mehr einer arabischen 6. Das ist umso merkwürdiger, als im übrigen Teil der Inschrift vier hervorragend eindeutige 'D' erscheinen. Es ist immer schlecht, aus vermuteten Fehlern Schlüsse zu ziehen. Binterim schreibt über solche Zeichen, daß die der arabischen 6 ähnliche Figur als Unterscheidungszeichen oder als Trennungszeichen dient [12].

4. Die Haaner Kirche war den Märtyrern Chrysantus und Daria geweiht. Im gesamten Raum Niedersachsen findet sich dieses Patrozinium nicht. Lediglich in der Kölner Kirchenprovinz sind diese Märtyrer bekannt: In Welcherath (Trier), Münstereifel und Prüm, und in Haan (Erzdiözese Köln) [13].

Bei diesen Bedenken gegen die erwogene Beteiligung eines Vertreters der Diözese Münster oder Minden am Haaner Kirchenbau halte ich es nicht für ratsam, diese Lesart weiter aufrechtzuerhalten, zumal der übrige Satzaufbau noch weit andere Probleme aufzeigt.



 
Die Inschrift des Weihesteins,
skizziert von Harro Vollmar:

A VENERABILI ARCHIEPISCOPO WICH-
Von dem ehrwürdigen Erzbischof Wich-

FRIDO II NONAS AUGUSTI DEDICATA EST
fried ist am 4. August diese Kirche

HAEC (AEC)CLESIA IN HONOREM SANCTORUM
eingeweiht worden zu Ehren der heiligen

MARTYRUM CHRYSANTI ET DARIAE
Märtyrer Chrysantus und Daria

?
?

Sämtliche Interpreten der Haaner Kircheninschrift übernahmen alle die Meinung Lacomblets, ein gewisser 'ALEGERUS' sei Erbauer der Kirche gewesen. Die Veröffentlichungen darüber sind inzwischen unübersehbar, auch überregional. Sogar Vermutungen darüber wurden angestellt, wer dieser Alegerus war, bis hin zu Einzelheiten.

Niemand aber hat bis heute dazu eine historisch verwertbare Quelle veröffentlicht. Seit Jahren bemühe ich mich ununterbrochen, das verfügbare, zeitlich einschlägige Quellen-Material auf den Namen Alegerus hin durchzuforsten. Dabei habe ich bisher etwa mehr als 100 000 Namen überprüft. Einen Alegerus aber gab es bisher nicht, weder im rheinischen noch im übrigen deutschsprachigen Raum. So groß aber war die Welt damals nicht, daß der Name eines nur halbwegs begüterten oder einflußreichen Mannes bis heute hätte verlorengehen können.

Daraufhin habe ich mir den Inschriftenstein, der neuerdings im Chor der neuen evangelischen Kirche untergebracht ist, noch einmal angesehen.

Das vakante Wort heißt natürlich nicht 'ALEGERUS', sondern nur 'ALEGER', aber auch das nicht geschlossen, sondern durch ein Satzzeichen, das bisher niemand beachtet hatte, unterteilt in 'ALE' und 'GER', obwohl bereits auf älteren Fotos dieses Zeichen, ein Stern oder ein Kreuz, deutlich erkennbar war. Binterim erwähnt in seiner bereits zitierten Literatur dieses Zeichen als christliche, frühmittelalterliche Unterscheidungszeichen, nämlich das Kreuz oder den Stern (nach 'ALE') und auch den Beistrich (nach 'GER') =

          ALE* GER'

Mit anderen Worten: Wir werden die Buchstabengruppierung ALEGER neu interpretieren müssen.

Anläßlich eines Gespräches zwischen den Herren Professoren Dr. Herbert Kühn, Mainz und Henry Schaefer-Simmern, Berkeley, über die Haaner Schläfenringfunde aus Bronze am 'Alten Kirchplatz' (auf die ich noch zu sprechen kommen werde), ließ mir Professor Kühn durch Professor Schaefer-Simmern im September 1975 folgendes mitteilen:

»Vermutlich wurden die Bronzeringe von einer gewissen Elite der Bevölkerung benutzt, oder deren Benutzung wurde durch diese Elite vermittelt. Es ist zwar nicht auszuschließen, daß Bauern diese Ringe - etwa als Relikt einer vergangenen Kultur - getragen haben, aber unwahrscheinlich. Nur Vertreter der Kirche, des Landesherren oder andere Angehörige einer vermögenden oder überdurchschnittlich gebildeten Bevölkerungsgruppierung werden in Haan den Begräbnis-Ritus der Schläfenringe aus Bronze gepflegt haben.«"


Sammlung Haus Stöcken
 
2006
Schädel mit Bronzeband,
aufbewahrt in Haus Stöcken
Foto © Dirk Westerweg

"Die vorindustrielle Geschichte der Siedlungen des Bergischen Landes ist mangels Urkunden und mangels archäologischer Grabungsergebnisse leider noch zu unklar. Noch kann nicht als gesichert gelten, ob das etwa 1000 Jahre alte, im Posener Museum aufbewahrte Schwert mit der Inschrift 'SIMENHUIS' tatsächlich aus dem Oberhaaner Hof Simonshaus stammt, der schon in Urkunden des Mittelalters erwähnt wird [14] [15].

Aber die Stützpunkte der Kirche und der Landesherren dürften hinreichend bekannt sein. Für den Haaner Raum bieten sich zur Untersuchung wohl nur kirchliche Institutionen an, zumal das Erzstift Kur-Köln für Haan sogar noch mindestens bis etwa 1450 gleichzeitig alleiniger Landesherr war [15].

Einflußträger für Köln waren in der näheren Umgebung Haans im 10. Jahrhundert nur Gerresheim und Essen mit ihren Kanonissen-Stiften und Kaiserswerth. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß diesen Stiften eine wesentliche Rolle bei der Missionierung und Christianisierung bestimmter Gebiete ihres Einflußbereiches zugeteilt war. Bei der Überprüfung der Verhältnisse der Stifte zu Haan sind nur nach Gerresheim wesentliche Verbindungen herstellbar.

Ausgerechnet Lacomblet beging 1866 den Flüchtigkeitsfehler, die bedeutende Stadt Hagen in Westfalen mit unserem Haan zu verwechseln [16].

Er veröffentlichte ein »Register der Wachszinsigen des Stifts Gerresheim in verschiedenen Kirchspielen des Bergischen Landes und dem Märkischen Kirchspiele Hagen« aus der Zeit um 1312. In dieser Wachszinsigenliste werden die Orte Lüttringhausen, Remscheid, Cronenberg, Elberfeld, Sonnborn, Wald, Solingen, Hagen, Erkrath, Mettmann, Gerresheim und Hilden aufgeführt.

Erst wenn man unter Hagen die Hofbezeichnungen 'obere Heide' (upper Heyden), 'im Dorf' (in villa), 'Schasiepen' (Scaensipe), 'Champanien' (Campanarius) und 'Krutscheidt' (Crutschede) liest, dann erfährt man, daß nur Haan, aber nicht Hagen in Westfalen gemeint sein kann. Ähnliche Urkunden aus den Jahren 1217 und 1218 sind in Verbindung mit Besitzwechseln oder Steuerlisten bekannt. Genannt werden die Höfe Wibbelrath und Krutscheidt [17]. Die Lesung Haan für Hagen in Westfalen ist natürlich schon wegen der geographischen Aufzählungsfolge eindeutig.

Der langfristig nachwirkende Irrtum Lacomblets hatte insofern bis in die jüngst vergangene Zeit hineinreichende Folgen, als jede Verbindung zwischen Haan und Gerresheim unbeachtet blieb [18].

Auf einen früher wirksam gewesenen Einfluß Gerresheims auf Haan deutet auch eine andere Urkunde.

Zum 'Liber Valoris' von 1308, eine Sondersteuerliste der Kirchen der Erzdiözese Köln, die nach Untersuchungen von Friedrich Wilhelm Oediger auf ältere Unterlagen aus der Zeit um 1100 zurückgeht, sagt der Herausgeber: »Es gibt Zuordnungen nach der Lage oder der gleichen Taxe. Die jüngeren Kirchen stehen durchweg am Ende der Liste, die Kapellen auch hinter den Mutterkirchen, aber alles ohne feste Regel.«

In der Tabelle IX des Dekanates Neuß steht Hilden an 42., danach Richrath an 43. Stelle. Es folgen Monheim, Himmelgeist und Unterrath. An 47. Stelle dann steht Gerresheim, an 48. Gruiten als Grutene capella, und an 49. Stelle Haan, bezeichnet als Hagen capella, immerhin noch vor 11 weiteren Kirchen und Kapellen bis zum Ende der Liste [19].

Nach den bisher festzustellenden, mindest latenten Verbindungen Haans zu Gerresheim, bot sich eine Untersuchung der Gerresheimer Urkunden an. In mehreren Urkunden [20]) aus der Zeit etwa des Haaner Kirchenbaus fand ich nun 3 Geschwister, die offenbar das Stift Gerresheim und seine Aufgabe administrativ und wirtschaftlich verwaltet und geführt hatten:

                   ADALBURG und ihre Schwester
Äbtissin       LANTSWIND und ihr Bruder, der
Schutzvogt   EVERWIN

Diese 3 Anfangsbuchstaben ergeben die Buchstabenfolge 'ALE' im vermeintlichen Alegerus. Kein Wunder, daß die nächsten 3 Buchstaben 'GER' auf Gerresheim (Gerezheim, Gerichesheim) weisen. Mit anderen Worten, wir müssen den Alegerus heute wie folgt interpretieren:

          'ADALBURG, LANTSWIND und EVERWIN von GERRESHEIM'

Adalburga, Lantwinda und Everwin, diese einflußreiche und bekannte Geschwistergruppe aus dem Stift Gerresheim, hatte es nach damaligem Ermessen kaum nötig, mehr Worte auf den Inschriftenstein der alten Haaner Kirche setzen zu lassen. Sie mußten aus der Sicht ihrer Welt heraus annehmen, daß der Sinn der Kürzel ihrer Inschrift als Selbstverständlichkeit nie vergessen würde.

Vielleicht wäre diese Erwartung auch eingetroffen, wenn der Aufenthalt ihrer Institutionen in Haan längere Zeit gedauert hätte. Die Haaner Bauern und Handwerker in der Folgezeit aber hatten andere Sorgen. Die Mühsal der Tagesarbeit und der unsicheren Zeitläufe werden ihre Aufmerksamkeit anderweitig in Anspruch genommen haben. So kam es, daß bis in unsere Zeit noch nicht einmal die Spur einer Überlieferung oder einer Sage erhalten blieb, weder über den Gerresheimer Ursprung, noch über einen anderen.

Hugo Weidenhaupt, der Erforscher der Gerresheimer Geschichte, schrieb 1970 [21]:

»Zu den ältesten Kanonissenstiften im Bereich der alten Erzdiözese Köln gehört ... auch das Stift Gerresheim. Dessen Existenz ist für das Jahr 905/906 eindeutig urkundlich erwiesen. Sein Gründungsjahr ist nicht überliefert, es kann aber mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß Gerresheim als hochadeliges Stift in der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts von dem fränkischen Adeligen Gerrich gegründet und auf der Kölner Synode im September 870 bestätigt worden ist.

... Auf einem ihrer Züge, von denen die zeitgenössischen Chronisten und Annalen immer wieder berichten, haben [die Ungarn], wahrscheinlich im Jahre 919, ... das Stift Gerresheim überfallen. Die Gebäude des Stiftes einschließlich der Wohngebäude fielen den Flammen zum Opfer, die männlichen Bewohner wurden erschlagen oder als Geiseln mitgeführt, der gesamte bewegliche Besitz geraubt. Nur die Äbtissin Lantswind konnte mit den Kanonissen und unter Mitnahme der Reliquien des Stiftspatrons, des heiligen Hippolyt, nach Köln fliehen. ... Erzbischof Hermann I. wies ihnen 922 das seit dem Normannen-Überfall zerstört vor den Toren der Stadt liegende Stift St. Ursula als neuen Sitz zu.«


Soweit Hugo Weidenhaupt. Was er nun weiter berichtet, ist in der Schlußfolgerung gelegentlich unsicher, denn irgendetwas fehlt:

»Ein Priester und einige wenige Stiftsdamen kehrten jedoch sofort nach dem Abzug der Ungarn nach Gerresheim zurück. Vielleicht standen noch einige Zeit beide Häuser unter einer Leitung, aber schon relativ bald, um die Mitte des 10. Jahrhunderts, war Gerresheim wieder ein selbständiges Institut. Während St. Ursula infolge des mächtigen Schutzes durch den Erzbischof schnell aufblühte, spielte sich das Leben in Gerresheim vorerst in sehr bescheidenem Rahmen ab ... Etwa ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis in Gerresheim wieder Kirche und Stiftsgebäude erbaut waren. Sie wurden 970 durch den Erzbischof Gero von Köln eingeweiht.«

Mit unserem Wissen von heute können wir die Frage stellen, ob nicht etwa die Gerresheimer Kanonissen in der Zwischenzeit in Haan residiert haben. Vielleicht hat man sich, da die Ungarngefahr bis zur Schlacht auf dem Lechfelde 955 noch nicht vorüber war, in den Schutz der bergigen Wälder und Sumpfniederungen Haans geflüchtet, zumal hier ein Teil des ländlichen Besitzes der Gerresheimer war. Hier war man, im Gegensatz zu Köln, inmitten von Menschen, die sich der Gerresheimer Kirche durch Wachszinsigkeit freiwillig Untertan gemacht hatten.

Vom Leben der Stiftsdamen schreibt Binterim 1826: [22]

»Die Stiftsdamen oder Canonessen verdienen eine besondere Aufmerksamkeit, weil sie in mehreren Punkten von den Klosterfrauen verschieden sind.

Sie legen 1. keine Gelübde ab, sondern können zu jeder Zeit austreten und heirathen;
2. sie leben zwar gemeinschaftlich, aber jede hat ihr eigenes Haus, ihre besondere Dienerschaft und ihre Einkünfte;
3. sind sie nur zum Chor verbunden, weswegen sie auch ihre Präbende [ihre Leibrente] ziehen;
4. können sie außer der Zeit, wo sie dem Chor beiwohnen, eine ihnen beliebige Kleidung tragen. Sie werden daher auch Canonissae saeculares, weltliche Stiftsdamen genannt.«


Vom frühen Mittelalter an bis 1585 nahm das Damenstift Gerresheim nur Mitglieder des hohen Adels auf [23]. Das waren im wesentlichen demnach die deutschen Fürstenfamilien, die ihre Töchter oder Witwen in die wohlabgeschiedene Sicherheit der Siedlung Haan gegeben haben müssen: Kurfürsten, Herzöge, Grafen, Erzbischöfe, Bischöfe, und, wer weiß, vielleicht auch Könige.

Urkunden über die Größenordnung des Klosters Gerresheim sind relativ jung. Im Jahre 1208 hatte Gerresheim 26 Damen und 4 Kanoniker im Stift [23]. Diese recht kleine Gruppe gibt einen Hinweis darauf, daß es sich bei den wenigen Hochadelstiften jeweils um recht exklusive Kreise gehandelt haben muß. Da die Gerresheimer Stiftsdamen Haan etwa nach der Mitte des 10. Jahrhunderts wieder verlassen hatten, sei es durch Aufgeben dieses Standortes oder durch Tod, bestand die Möglichkeit zu einem Wechsel der Mutterkirche.

Friedrich Wilhelm Oediger schreibt 1972: »Der Pfarrer von Richrath weist noch im 16. Jahrhundert die Pfarrer zu Hilden, Haan, Elberfeld und Cronenberg ein.« [24] Es muß sogar ein Wechsel des Patroziniums stattgefunden haben, denn im gesamten folgenden Mittelalter waren nicht mehr Chrysantus und Daria, sondern der heilige Kilian Patron der Haaner Kirche. Heinrich Strangmeier [25] verdanken wir seit 1951 eine detaillierte Dokumentation über die Haaner Patrozinien. Auch wurde danach noch weiteres Urkundenmaterial über diesen Wechsel veröffentlicht [26].

Die adeligen Geschwister bauten hier in Haan eine Art Stiftskirche. Nur so ist der Grundriß der Kirche, der bisher in den Aufriß der vergleichbaren Kirchen der Nachbarschaft nicht einzuordnen war, zu erklären. Das Gutachten des leitenden Archäologen, des Direktors der Außenstelle Xanten im Rheinischen Landesmuseum Bonn, Dr. Dirk Soechting, ist noch in der Bearbeitung, zum Teil auch aus eben diesen genannten Problemen, wie mir mitgeteilt wurde.

Aber beim derzeitigen Stand der Untersuchungen kann man wahrscheinlich - natürlich unter Vorbehalt - schon folgendes sagen: Vermutete man ursprünglich einen romanischen Kirchenbau, der aus etwa 3 bis 4 Baustadien mindestens bestand (nämlich Urkirche, d.h. Chor mit Schiff, dann Turm, dann Seitenschiff und zuletzt Sakristei), so muß man wohl heute nur 2 Baustadien unterscheiden. Im 10. Jahrhundert bereits wurde möglicherweise die gesamte Kirche erbaut, mit einem Seitenschiff zur Absonderung der Kanonissen (diese Absonderung war im Mittelalter allgemein üblich), vermutlich auch mit Turm. Erst später entstand als äußerer Anbau eine gotische Sakristei.

Dabei waren die räumlichen Abmessungen für einen relativ kleinen Ort wie Haan überdimensional. Die in unserer Nachbarschaft archäologisch ergrabenen Kirchen, deren Fundamente ebenfalls etwa Mitte 10. Jahrhundert datiert werden, standen in der Größenordnung zur Haaner Kirche im folgenden Verhältnis:

Elberfeld, St. Laurentius, ergraben von Dr. Hermann Hinz, 1953 [27], Grundfläche etwa 108 m2.
Solingen, St. Clemens, ebenfalls Dr. Hinz 1957 [27], Grundfläche etwa 168 m2.
Hilden, St. Jakob, ergraben von Dr. Dr. Günter Binding 1965 [27], Grundfläche nur 66 m2 (!).
Haan, St. Chrysantus und Daria, ergraben 1971 bis 1973, Grundfläche 212 m2

Allein der Vergleich der Mauerdicken der Chöre ist aufschlußreich:
Hilden 50 bis 70 cm dick, Haan dagegen 90 cm bis 1,20 Meter!

Wir können jetzt wohl davon ausgehen, daß die Geschwister Adalburga, Lantswinda und Ewerwin recht begütert waren. Aber eine noch wichtigere lokalhistorische Erkenntnis ist, daß Haan wohl niemals eine Nebenstelle von Hilden gewesen sein kann, wie bisher m.E. in vielen geschichtlichen Abhandlungen kritiklos dargestellt wurde."

  So steht es auch 1900 bei Anton Schneider und 1928 bei August Lomberg.

"Ursache für diese Fehleinschätzung war eine heute unbegreifliche Behauptung Lacomblets, der 1854 [28] leichtfertig schrieb: »Einer der 12 Tafelhöfe, welche Cölns Bischöfe aus vorurkundlicher Zeit besaßen, war Hilden, wovon Haan ein Abspliß ist... Eine ältere Urkunde für das frühe Dasein der Kirche zu Hilden ist eine noch wohl erhaltene Inschrift an der Kirche zu Haan, welche als Filiale von jener ausgegangen.«

Für diese Behauptung gibt es bis heute nicht einen urkundlichen Beweis. Lacomblet ging damit sogar so weit, aus dem hohen Alter von Haan auf ein noch höheres Alter von Hilden zu schließen. Wie immer bei Lacomblet haben seine gelegentlichen Fehleinschätzungen, besonders Haan war davon betroffen, den Nachteil, daß sie im Laufe der letzten 120 Jahre gültig blieben.

Der Gründungsstein der Haaner Kirche enthält zwar nach wie vor keine Ortsangabe, denn Haan wird nicht erwähnt. Aber nicht nur wegen der aufgefundenen Größenordnung der alten Kirchenfundamente, sondern vor allem wegen der freigelegten 18 Gräber mit Schläfenringen aus Bronze im März 1972, die in einem Feld von 4 Meter bis 20 Meter parallel liegend von der Südmauer des Kirchenschiffs entfernt lagen, ist eine Zuordnung zur Haaner Kirche eindeutig. Die Gräber, die in einer Tiefe von ca. 1,30 Meter unter damaligem Niveau lagen, wurden zudem nicht voll ausgewertet.

Da die Baggerarbeiten überwiegend nicht beobachtet werden konnten, ist sogar noch mit einer angemessen hohen Dunkelziffer zu rechnen. Wir müssen wohl annehmen, daß ein Teil der Stifts-Damen sich neben ihrer Haaner Kirche bestatten ließ. Die Altersbestimmung der Gräber erfolgte im Laufe der Jahre 1972 und 1973 im Institut für Erd- und Raumphysik durch Professor Rainer Berger in der Universität von Los Angeles. Untersucht wurden mittels Radiokarbon-Methode 3 verschiedene Stoffproben aus Leinen, die die aufgefundenen Schädel umhüllt hatten, und ebenfalls untersucht wurden 3 verschiedene Skelett-Teile. Das Ergebnis war: Älter als 1000 Jahre, also etwa aus der Zeit um 950.

Daß Haan gleichwohl noch eine ältere Siedlung gewesen sein muß, ist sehr wahrscheinlich. Abgesehen davon, daß größere Kirchen wohl selten auf der grünen Wiese erbaut wurden, beweist uns ein im Dezember 1973 unter dem alten Kirchenfundament aufgefundenes und voll ausgemauertes Kopfnischengrab, daß der Kirchhof eine bereits früher benutzte Grabstätte war. Die Untersuchungen dazu sind noch nicht abgeschlossen.

Mit der Feststellung, daß Adalburga, Lantswinda und Ewerwin von Gerresheim die Erbauer der Haaner Kirche sein mußten, wollte ich mich alleine nicht zufriedengeben. Der letzte Teil der Haaner Kircheninschrift war wieder relativ klar und paßte auch zum Plural des Personenkreises:

EREXITI gibt EREXISTIS, also heißt es interpretiert »Ihr habt diese Kirche erbaut«. Was war aber mit den anderen Buchstaben zwischen Anfang und Ende dieses Satzes? Das HV mit dem Kürzungsstrich hatte Helmut Dahm [29] richtig geklärt mit Priester oder Geistlicher, also HONORABILI oder HONESTI oder HUMILI VIRI, in unserem Falle also sinngemäß besser übersetzt mit 'Würdenträger'.

Aufklärung über das folgende Wort MIIS fand ich in anderen Urkunden Wichfrieds aus der vergleichbaren Zeit [30], die im Zusammenhang mit Klöstern und Kirchen verfaßt wurden: Danach kann man MONASTERII SANCTI in 'des frommen Klosters' auflösen, was ja auch nahe liegt.

Das nun folgende Zeichen ist nach Binterim [31] ein klares Satzzeichen, einer arabischen 6 ähnelnd, also nur ein Trennungszeichen. Dieses Satzzeichen hat bisher bei allen Interpreten heillose Verwirrung gestiftet, weil man es mit Gewalt als Buchstaben ansah, anfänglich auch bei mir. Dabei hat gerade dieser Irrtum alle abgelenkt von der köstlichen Perle, die direkt dahinter steht, nämlich die 3 Buchstaben IOC. In den erwähnten alten Urkunden sind meist mehrere Jahreszahlen angegeben, z.B. das Jahr der Regierung des Königs, das Jahr der Geburt Christi, und dann das Jahr der Indiktion.

Die Indiktionen sind ein altes römisches Zeitmaß für einen 15-Jahre-Rhythmus; heute sind sie vergessen. Aber alle Urkunden zu Beginn des 10. Jahrhunderts geben noch die Indiktion an, z.B. VIIII. indictione, Indictione secunda oder VIto. Indictione. Und dann, in einer Urkunde Wichfrieds von 948: Octavo Indictione. Man darf es auch umgekehrt schreiben: Dann heißt es 'INDICTIONE OCTAVO', nämlich unser IOC!

»Du liebe Güte« dachte ich, »warum hat denn das bisher kein Mensch bemerkt?« Unsere Jahreszahl aber ist nicht 948, sondern früher, denn wenn eine Indiktion im Regierungszeitraum Gelegenheit bekommt, sich zu wiederholen, dann wird grundsätzlich immer noch eine zweite Jahreszahl anderer Zeitrechnung hinzugegeben. Nach Binterim [32] errechnet sich die Indiktion wie folgt:

(Angenommene Jahreszahl n. Chr.) + 3 [33]
geteilt durch 15

Der Rest der Zähler von Fünfzehnteln ergibt die Indiction. Im umgekehrten Verfahren ergibt sich danach für die Gründung der Haaner Kirche die Jahreszahl 935, da Wichfried etwa von 923 bis 953 Erzbischof war [34].

Nun endlich klärt sich auf, warum der Schreiber des Haaner Kirchen-Dokuments zum 4. August die Jahreszahl im oberen Teil weggelassen hatte, worüber sich alle möglichen Leute einschließlich derer, die von Berufs wegen lateinische alte Inschriften zu lesen haben, bisher ereiferten.

Trotz einiger gegenteiliger Ansichten sind wir dem Verfasser der alten Haaner Kircheninschrift wohl die Feststellung schuldig, daß diese Inschrift stilistisch, sachlich und orthographisch nach den Regeln seiner Zeit eine erstklassige Arbeit gewesen ist. Wie könnte es auch anders sein? Die Spitzen der Gelehrten Europas saßen damals in Köln, und Erzbischof Wichfried, der ein Jahr später Otto den Großen zum König krönen sollte, dürfte keine zweite Garnitur nach Haan geschickt haben.

Zusammenfassend können wir damit endlich feststellen, daß für Haan nun eine früheste chronologische Ersterwähnung vor der Jahrtausendwende existiert: 935, das letzte Regierungsjahr König Heinrich I., des Städtegründers. Unsere Städte in Deutschland pflegen von solch einer Jahreszahl das Datum ihrer Begründung abzuleiten. Diese entscheidenden letzten Zeilen in der alten Haaner Kirchen-Inschrift lauten, ins Deutsche sinngemäß übersetzt, nach meiner Meinung:

    »Adalburg, Lantswind und Ewerwin von Gerresheim,
    Würdenträger des frommen Klosters,
    im Jahr 935 habt Ihr diese Kirche erbaut«"




Quelle:
  • Vollmar, Harro: Bemerkungen zur mittelalterlichen Geschichte der Siedlung Haan. Text eines Referates, das der Verfasser am 4. Mai 1974 aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der Abteilung Haan des Bergischen Geschichtsvereins in Schloß Burg gehalten hat. In: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, 87. Bd. Jg. 1974/76. Neustadt an der Aisch 1977.

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